Dennoch enthält Ates‘ falsche Verknüpfung (der „sexuellen Revolution“ mit dem „Islam“) eine Wahrheit: Die Identifizierung mit dem Islam scheint in Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehrheit eine ungleich „vollere“ zu sein als es etwa in Europa - mit dem Christentum - der Fall ist *.
Dies manifestiert sich am eindrücklichsten im Umgang bestimmter islamisch geprägter Gesellschaften mit dem Phänomen der Apostasie, des Abfalls vom Islam. Im Iran und in Afghanistan droht Apostaten die Todesstrafe. In Malaysia gilt jeder Malaye von Geburt an als Moslem. Fällt er vom Islam ab, verliert er nach malayischer Verfassung die Staatsbürgerschaft. In einem Rechtsgutachten der angesehenen Kairoer Al-Azhar-Universität heißt es über einen Moslem, der - nachdem er eine Christin geheiratet hatte - zum Christentum konvertiert war:
„ … Da er vom Islam abgefallen ist, wird er zur Reue aufgefordert. Zeigt er keine Reue, wird er islamrechtlich getötet. Was seine Kinder betrifft, so sind sie minderjährige Moslems. Nach ihrer Volljährigkeit sind sie, wenn sie im Islam verbleiben, Moslems. Verlassen sie den Islam, werden sie zur Reue aufgefordert. Zeigen sie keine Reue, werden sie getötet. Und Gott der Allerhöchste weiß es am besten.“
In dieser Logik existiert ein Moslem allein in der Sphäre des Islams. Verläßt er jene Sphäre, hört er buchstäblich auf zu existieren.
Die „volle Identität“ zwischen der Gesellschaft und dem Islam ist dennoch - imaginär. Daß Apostasie in islamisch geprägten Gesellschaften überhaupt existiert, und, etwa im Iran, dem religiösen Establishment großes Kopfzerbrechen bereitet, beweist zur Genüge, daß es sich bei der „vollen Identität“ um Ideologie handelt. Zwar tief verwurzelt, dennoch aber Ideologie.
Diese Ideologie zu thematisieren, ihr zu widersprechen und sie zu brechen, wäre in einer islamisch geprägten Gesellschaft die erste und vornehmste Aufgabe einer Revolution, die ihren Namen verdient. Eine „Revolution“ aber, die dieser Ideologie blind sich fügt, hat verloren, noch bevor sie ausbricht.
Verkehrte Welt: Von Bischöfen und Imamen
Als sich der Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, in einem
BBC-Interview im Februar 2008 für die Integration "bestimmter, vor allem familienrechtlicher, Aspekte der Scharia in das britische Zivilrecht" aussprach, fragten sich viele, was ausgerechnet den Primas der anglikanischen Kirche bewogen haben mag, der Einführung von Scharia-Gerichten in Großbritannien das Wort zu reden.
Der Verdacht, daß Williams „bestimmte Aspekte der Scharia“ sagte, jedoch an „bestimmte Aspekte“ des britischen Zivilrechts dachte,die bei bestimmten Anhängern seiner eigenen Kirche Unbehagen auslösen - an das Recht auf Abtreibung etwa -, scheint berechtigt. Ob der Bischof die Moslems nun vorgeschoben hat, um Religionspolitik in eigener Sache zu betreiben, oder nicht – so wie Ates schreibt auch Williams den Moslems jene „volle Identität“ zu, die es ihnen unmöglich machen soll, Moslems und zugleich Rechtssubjekte eines säkularen Staates zu sein. Eine Zuschreibung, die auch von den Kritikern Williams nicht ernsthaft in Frage gestellt wurde.
Was bei den von Williams losgetretenen Debatten kaum zur Sprache kam: In Großbritannien existieren Scharia-Gerichte bereits seit 1982. Ein Lokalaugenschein der Oberösterreichischen Nachrichten beim Vorsitzenden der britischen Scharia-Räte in London ergibt - wie nicht anders zu erwarten - „Überraschungen“:
„ … Viel bürgerliches Reihenhaus-Idyll – so spießig sieht es aus vor der Tür einer Einrichtung, die viele Briten ganz oben auf die Liste der gefühlten Staatsfeinde setzen würden. Daß Mohammed Raza, Vorsitzender der britischen Scharia-Räte, hier im Londoner Westen hauptsächlich muslimische Frauen aus ihren Ehen befreit, wäre für sie die zweite große Überraschung. Die dritte ist der Imam selbst: Ein moderater, höflicher Mann mit einem großen Wunsch: ‚Es wäre prima, wenn mein Job überflüssig werden würde‘, sagt er, ‚wenn der Staat die religiöse Ehe der Frauen auflösen und ich den Rat schließen könnte.‘ […] Über 300 Frauen rufen jedes Jahr allein die Dienste des Imam Raza an. Sie alle haben das gleiche Problem: Sie können sich zwar am [zivilen, britischen (Anm. von mir)] Familiengericht scheiden lassen, für eine Trennung nach muslimischen Regeln brauchen sie jedoch das Einverständnis des Ex-Gatten. ‚95 Prozent der Fälle sind so gelagert und meistens weigert der Mann sich, zu unterschreiben‘, sagt Raza. ‚Wir setzen dann einen Scheidungserlass auf […] und lösen die Ehe auf.‘“ (Oberösterreichische Nachrichten, 15. Dezember 2009)
Die „Überraschung“ besteht darin, daß wir jene - vom Primas der Anglikanischen Kirche, Seyran Ates und auch den Oberösterreichischen Nachrichten postulierte - „volle Identität“ nicht einmal beim Vorsitzenden der britischen Scharia-Gerichte vorfinden. Offensichtlich hat dieser „moderate und höfliche“ Mann kein Problem mit der Vorstellung, daß Moslems zugleich Rechtssubjekte eines säkularen Staates sein können. Mehr noch: In seinem Bemühen, die Regeln der Scharia -
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* Den Begriff "volle Identität" verdanke ich Isolde Charim. Das Ressentiment gegen Moslems, so Charim, sei nicht, wie vielfach behauptet, "der neue Antisemitismus". Während der traditionelle Antisemit den Juden vorwerfe, keine "echten Österreicher/Deutsche" zu sein, schreibe der heutige Rechtsextreme den Moslems, ganz im Gegenteil, "volle Identität" zu - und beneide sie insgeheim darum.
Vgl. Charim, Isolde "Volle Identität gegen nicht-volle", in R. Just, G.R. Schor (Hg.): Vorboten der Barbarei, Hamburg: Laika, 2011: 11-16
wird fortgesetzt
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