Denis Diderot |
„Die Belagerten waren dazu übergegangen,
gekochtes Gras und die Scheiden ihrer Schwerter zu essen und aus gemahlenen
Knochen Mehl herzustellen ... Der Mann auf der Festungsmauer hatte sein Schwert
über seinen weißen Umhang geschnallt. Um seinen Kopf trug er ein weißes Band –
und der Moslem, dem sicheres Geleit zugesichert worden war, um den Mann mit
nach Hause zu nehmen, erschrack als er dessen Gesicht sah, das ihm entflammt
und unnachgiebig erschien ...
Der Moslem versuchte den Mann zu bewegen, mit ihm nach Hause
zurückzukehren.
„Komm mit!“, sagte er, „Dein Sohn, der kleine
Rahman, hat Sehnsucht nach Dir.“
„Sag ihm“, sagte der Mann auf der
Mauer, „daß mein Herz von der Liebe zum wahren Rahman erfüllt ist [in der islamischen Tradition ist
Rahman einer der 99 Namen Gottes,
Anmerkung von mir]. Und daß diese
Liebe keinen Platz für eine andere läßt“.
Der Moslem begann zu weinen.
„Möge Gott Dir beistehen“, sagte er.
„Er ist mir schon beigestanden“, sagte
der Mann auf der Mauer, „wie sonst hätte ich zu dieser erhabenen Festung
gelangen können?“1)
Die Festung, von der hier die Rede ist, die Tabarsi-Festung im waldreichen Norden Irans,
war 1848 Schauplatz eines monatelangen blutigen Kampfes zwischen den
Regierungstruppen und den Anhängern der Babi-Religion, einer messianischen Bewegung, deren Anhänger an die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft des
schiitischen Messias glaubten, ähnlich wie die Anhänger Johannes des Täufers an
das bevorstehende Erscheinen des Erlösers. Der Mann auf der Festungsmauer – der
Vater des kleinen Rahman – war einer dieser Gotteskrieger.
Diesem
Mann, den wir als Prototyp eines Fanatikers empfinden, begegnen wir, Europäer
des frühen 21. Jahrhunderts, ähnlich wie wir den Gotteskriegern des Islamischen Staates begegnen: Mit einer
Mischung aus Erstaunen, Angst und Abscheu –
aber möglicherweise auch Neugier,
Faszination, und mitunter vielleicht sogar Neid.
Eines
scheint uns dabei klar zu sein: Daß uns, wie wir uns selbst wahrnehmen, vom
Fanatismus dieser Gotteskrieger Welten
trennen. Uns, die wir uns als materialistisch und hedonistisch wahrzunehmen
gewöhnt sind. Uns, die wir unsere Position dem Glauben gegenüber zwar nicht als ablehnend, aber als entspannt bis
distanziert beschreiben würden.
Allerdings
müßte es uns stutzig machen, daß die Begriffe hedonistisch und materialistisch
in unserer Alltagssprache immer stark negativ
besetzt sind. Und es stellt sich die Frage, wie es möglich sein kann, daß wir, angeblich von
Materialismus und Hedonismus Durchdrungene, diesen uns angeblich durchdringenden
Materialismus und Hedonismus, zugleich ausnahmslos
schlecht finden.
„Materialismus“
und „Hedonismus“ sind Begriffe, die unsere Alltagssprache von der Philosophie übernommen
hat – dort allerdings haftete ihnen keineswegs immer jener, uns
selbstverständlich erscheinende, negative Beigeschmack an.
Als
Begründer des philosophischen Hedonismus - hedonè ist das altgriechische Wort
für Lust - gilt Aristipp von Kyrene. Der breiten Öffentlichkeit, im Unterschied zu
seinem Lehrer Sokrates oder seinem „Mitschüler“ Plato, so gut wie unbekannt, auch
wenn Christoph Martin Wielands schöner
Roman „Aristipp“ ihn eine Zeit lang ins Blickfeld der deutschsprachigen Öffentlichkeit
zu rücken vermochte - bevor dann Wieland selbst in Vergessenheit geriet.
Ohne
starke Verankerung in der Lust, – so die Essenz der dem Aristipp und seinen
Schülern, den Kyrenaikern, zugeschriebenen Ethik, kein geglücktes Leben. Wobei
die Lust des Körpers, die Aristipp als „sanfte Bewegung“ charakterisiert, der Vorrang
vor der intellektuellen, wie wir heute sagen würden, „sublimierten“ zukommt.
Historisch
– nicht allerdings gedanklich - näher sind uns Denis Diderot und sein Freund Baron
Thiry d’Holbach, Vertreter eines aufgeklärten
Hedonismus im Paris des 18. Jahrhunderts. Auch sie sind - als Philosophen -
in Vergessenheit geraten. Diderot ist uns zwar als Enzyklopädist und als Schriftsteller
ein Begriff, nicht aber als zentrale philosophische Figur einer Aufklärung, die
diesen Namen verdient. Daß wir, wenn wir heute „Aufklärung“ sagen, an den
geistreichen, aber opportunistischen und intriganten Voltaire, oder an den Anti-Aufklärer Rousseau denken, oder auch an Kant,
der es als seine Aufgabe sah, „das Wissen auf[zu]heben, um zum Glauben Platz zu
bekommen“2), nicht aber an die radikalen, weil konsequenten Aufklärer
d’Holbach und Diderot, ist das Ergebnis eines gesellschaftspolitisch- ideengeschichtlichen
Verdrängungswettbewerbs - mit weitreichenden Folgen für die Verfaßtheit der Gegenwart.
Die
Annahme, daß zwischen dieser - mit Philipp Blom zu sprechen -„Kastration der
Aufklärung“3) und dem miserablen Ruf von Materialismus und Hedonismus4)
in der Gegenwartskultur ein Zusammenhang existiert, ist durchaus berechtigt.
wird fortgesetzt
1)
frei
übersetzt aus Marzieh Gail, Dawn Over
Mount Hira:
http://bahairesearch.com/english/Baha'i/Baha'i_Studies/Marzieh_Gail/Dawn%20Over%20Mount%20Hira.aspx
2)
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft,
Stuttgart 1966, S. 38
3)
Mündliche Mitteilung. Vgl. auch Philipp Bloms ungemein aufschlußreiches Buch Böse Philosophen, München 2011
4)
Und dem bemerkenswert schlechten Ruf des Atheismus, wie hinzugefügt werden muß.
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