Psychoanalyse, sagte der Geistliche, ist die Schule der Perversion
"Plötzlich standen vier Personen im Zimmer, ein Mann in der Klerikerrobe sowie drei Blaue, die Blauen nahmen meinen Kameraden ihre pornografischen Hefte und mir die Drei Abandlungen zur Sexualtheorie von Freud aus der Hand, ich kannte die Blauen damals noch nicht, aber es fiel mir auf, daß sie Jeanshemden trugen, und nicht viel älter sein konnten als wir. Der Blaue, der mir die Abhandlungen aus der Hand genommen hatte, las laut - und fast feierlich - den Titel und den Namen des Autors:
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Sigmund Freud
Als der Geistliche, der etwas abseits stand, Sigmund Freud hörte, kam er näher, nahm dem Blauen die Abhandlungen zur Sexualtheorie aus der Hand, und sagte, er kenne das Buch. Während seines Studiums der Theologie in Süd-Teheran hätte er auch Freud und andere Philosophen gelesen. Ich wußte von Vater, der gerne über Freud sprach, daß Freud kein Philosoph, sondern Arzt war, das sagte ich auch, was den Geistlichen überraschte, ich war ja erst 17, aber er überging meinen Einwand, und sagte, ich hingegen, in meinem Alter, sollte keine pornografischen Bücher studieren. Ich sagte, daß Freud alles mögliche wäre, aber kein Pornograf - ich war ein vorlauter, altkluger Junge -, der Geistliche schien verärgert, schlug das Buch auf, um eine bestimmte Stelle zu suchen, die er dann vorlas, ich habe die Stelle später gefunden und immer wieder gelesen, und kann sie mittlerweile auswendig:Die Ärzte, welche die Perversionen studieren, sind geneigt, ihnen den Charakter der Degeneration zuzusprechen. Indes ist es leicht, dies abzulehnen. Bei keinem Gesunden dürfte ein pervers zu nennender Zusatz zum normalen Sexualziel fehlen, und diese Allgemeinheit genügt, um die Unzweckmäßigkeit einer vorwurfsvollen Verwendung des Namens Perversion darzutun.
‚Psychoanalyse‘, sagte der Geistliche, ‚ ist die Schule der Perversion‘, und daß in Teheran unter dem Kaiser die Psychoanalytiker wie die Pilze aus dem Boden geschossen wären, und von den Amerikanern den Auftrag hätten, die Perversionen in Teheran zu fördern. Wenn ein Teheraner sich auf die Couch lege, werde er hypnotisiert und zur Perversion und zu einem Leben voller Parties und Sex und Drogen ermuntert. Der Geistliche hatte eine sonore Stimme, und während er sprach betonte er Worte wie Pilze oder Perversion oder Parties, seine Hände machten seltsame Bewegungen, z.T. geschwungen, z.T. ausladend, z.T. verschlungen, die Blauen und die Kameraden und der Buchhändler, der wie ein Türsteher aussah, lauschten mit offenen Mündern – ich dachte, er wäre, hätte er nicht Theologie studiert, als Theaterschauspieler oder Sänger an der Teheraner Oper geeignet.
Ich wartete bis er fertig war. Dann stellte ich mich hin und sagte: ‚Sie irren‘. Daß ich altklug und vorlaut war, sagte ich schon, in der Schule hatte ich mehrere Redewettbewerbe gewonnen, und liebte es, vermeintlichen oder tatsächlichen Autoritäten zu widersprechen, vor allem hatten mich unsere Eltern als Ungläubigen erzogen, und als solcher wollte ich mir von einem Pfaffen nichts vormachen lassen, zumal in Gegenwart der Kameraden, und schon gar nicht, wenn es um Freud ging, den der Vater so liebte. Ich erklärte, daß es in Teheran zwar tausende Psychologen und Psychiater gäbe, und Psychoterapeuten, Analytiker aber nur einen, einen Lacanisten in Teheran-Nord, der übrigens später flüchten mußte, nach Buenos Aires natürlich, und daß folglich die Perversionen und Parties Geschöpfe seiner, des Geistlichen, Phantasie wären.
Die Hände des Geistlichen machten eine Bewegung, als wäre er eine Frau mit ausladenden und abnehmbaren Brustprothesen, die er packte und ruckartig abnahm. Dann öffnete er den Mund, als wollte er etwas sagen, auf einmal drehte er sich weg, ging zu dem kräftigsten der drei Blauen, und sagte ihm etwas ins Ohr. Dieser packte mich an den Schultern, schob mich mithilfe seiner Kollegen aus der Buchhandlung, man verband mir die Augen, und ich wurde an den Händen gefesselt und in ein Auto gesetzt".
wird fortgesetzt
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