Mittwoch, 24. April 2013

Zizek in Teheran (40)


Unterschicht

Meine Tischgenossen, aber lassen wir das (Unterschicht usw.).

Die Entdeckung der  Unterschicht

zu Beginn des neuen Jahrtausends ist kein wissenschaftliches Datum, sondern das Produkt einer der politischen Pro­paganda dienenden öffentlichen Soziologie, in der einige Wissenschaft­ler (v. a. Paul Nolte und Heinz Bude) als professorale Autoritäten, aber auch als akti­ver Teil einer publizistischen Welle fungieren. Diese hat in Deutschland nicht zufällig im Jahr 2004 einen Höhepunkt erreicht: Sie begleitete und legitimierte die Einführung von „Hartz IV“: die Abkehr vom sozialstaatliche Ziel der Statussicherung hin zum Ziel der Existenzsicherung.

[…]

Rolf-Peter Löhr, Mitinitiator des Bundespro­gramms zur Stadtentwick­lung „Soziale Stadt“ , wird […] im Stern mit der „Beobachtung“ zitiert, diese Men­schen wüssten gar nicht mehr, wie das ist, morgens aufstehen, sich rasieren, vernünftig an­ziehen und zur Arbeit fah­ren. Wieder einmal wird eine Unterscheidung zwischen „anständi­ger“ und „verwerflicher“ Armut getroffen […] Die öffent­lichen Soziologen und die Medien, insbesondere BILD und das Unterschichtenfernsehen, bilden einen Kreislauf der wechselseitigen Beglaubigung und Legitimierung, wobei den Me­dien die Doppelrolle des Beweises und Symptoms zukommt.

[…]

… werden ganze Sze­narien der „Barbarei“ entworfen: Tattoos und Piercings, dicke Kinder, Bewegungsmangel und Fehlernährung, Videotheken, Gameboy und Premiere-Abonnement, Tabak, Alkohol und Lottospiel, ungezügelte Vermehrung bei Unfähigkeit zur Erziehung („Armut macht Kinder“), Unterschichtenfernsehen. Das Schlimmste: Sonntags gehen diese Leute nicht mehr in guten Anzügen, sondern in Jogginganzügen auf die Straße (Nolte 2004, S. 56).

(Hans Otto Rößer, Krieg dem Pöbel. Die neuen Unterschichten in der Soziologie deutscher Professoren. http://www.nachdenkseiten.de/?p=3503)

Meine Tischgenossen. Kommen aber, um Gottes Willen, nicht täglich.

Tischgenosse 1: Bildender Künstler. Bildnerische Kunst interessiert mich nicht. Und produziert immer das gleiche: Braune Handytaschen mit der Aufschrift: Converse - All Star, die sich von den im Teheraner Handel erhältlichen braunen Handytaschen mit der Aufschrift: Converse - All Star nicht unterscheiden.

Tischgenosse 2: Importiert Getränke aus Japan. Resp. versucht Getränke aus Japan zu importieren. Scheitert an den, von den Teheraner Revolutionsgarden kontrollierten Teheraner Konzernen, welche sämtliche Importe aus und die spärlichen Exporte nach Japan kontrollieren.

Tischgenosse 3: Segellehrer. Ausgebildet am Wörthersee. Wo er seine Jugend verbrachte. Arbeitslos mangels Interessenten und wegen des Fehlens der entprechenden Natur.

Ihre Tage verbringen die Tischgenossen beim Greißler, LeserIn, den sie hassen. Weit und breit kein Supermarkt. Stell Dir das Stehcafé in der Greißlerei wie das Stehcafé bei Tchibo vor. Drei Stehcafé-Tische. Ich kam mit den dreien ins Gespräch. Je einzeln. Vor der Greißlerei, auf der Straße. Über den Willen des Greißlers zur Konversation.

Daraus wurde - die Tischgenossenschaft. Die Geburt der Tischgenossenschaft aus dem Unbehagen an der Konversation. Ich koche gern. Die Tischgenossen essen. Bei Tisch wird geschwiegen.

Jedoch begrüße ich die Tischgenossen sehr wohl. Und verabschiede sie, während ich das Eßzimmer (zugleich das Wartezimmer) verlasse, begebe ich mich durch die Küche in das Analysezimmer, wo mich der Gefängnisarzt, auf der Couch liegend, erwartet.

wird fortgesetzt

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