„Ich behaupte, daß keine Geschichtsauffassung, die sich auf hegelomarxistische Prämissen stützt, ... [vom Holocaust, Anm. von mir] Rechenschaft zu geben imstande ist, bei dem es sich zeigt, daß den dunklen Göttern zu opfern, etwas ist, dem, in einer Art monströsen Befangenheit, nur wenige nicht erliegen.“
Hier erscheint Lacan nicht bloß schwer verständlich
- auch nachdem wir die Stelle „entschlüsselt“ haben, fällt es uns schwer, seine
Behauptung nachzuvollziehen. Denn: Einen Zusammenhang zwischen dem Begriff des
Opfers im wörtlich-ursprünglichen Sinn (also im Sinne des Tausches: „etwas
opfern, um etwas wertvolleres zu erhalten“) und dem Nationalsozialismus scheint
es nur dort zu geben, wo der Nationalsozialismus seinen eigenen Anhängern Opfer abverlangte. Ein „guter Nazi“ mußte bereit
sein, seine materiellen und geistigen Ressourcen und, wenn es sein mußte, auch sein
Leben zu opfern, um Führer, Volk und Vaterland zu dienen. Das Opfer, das der
Nationalsozialist brachte, hatte eine konkrete Funktion. Er gab etwas, im
Extremfall sein Leben, um der Volksgemeinschaft - im Krieg etwa - einen Vorteil
zu verschaffen.
Das „Opfern“ der Juden hingegen hatte überhaupt keinen
- rational faßbaren - Zweck.
Darauf verweist die Behauptung Lacans, daß
keine Geschichtsauffassung,
die sich auf hegelo-marxistische Prämissen stützt ... [vom Holocaust]
Rechenschaft zu geben imstande ist.
Eine Behauptung, die auf die Mehrzahl (traditioneller)
marxistischer Autoren wohl auch zutrifft - auf jene jedenfalls, die den Antisemitismus
und den Holocaust als Mittel zu einem anderen, häufig ökonomischen, Zweck zu erklären
versuchen.
Horkheimer und Adorno, die mit einiger Berechtigung
als „Hegelomarxisten“ bezeichnet werden dürfen, teilten diese Auffassung allerdings
nicht – oder nur bedingt. In der zwanzig Jahre vor jenem Lacan-Seminar
veröffentlichten Dialektik der Aufklärung
wird die Annahme eines den Antisemitismus motovierenden ökonomischen Zwecks jedenfalls zurükgewiesen:
„Daß die Demonstration seiner ökonmomischen
Vergeblichkeit die Anziehungskraft des völkischen Heilmittels [i.e. des
Antisemitismus, Anm. von mir] eher steigert als mildert, weist auf seine wahre
Natur hin [...] Gegen das Argument mangelnder Rentabilität hat sich der
Antisemitismus immun gezeigt. Für das Volk ist er ein Luxus.“ (Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno,
Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1969, S.179)
Die in jüngerer Zeit vom marxistischen Theoretiker Moishe Postone vertretenen Thesen über den
modernen Antisemitismus stellen eine „Zweckrationalität“ des Holocaust ebenfalls
in Abrede, gehen dabei über die Theorien Adornos und Horkheimers aber hinaus. Hatten
letztere dem Antisemitismus - bei aller „ökonomische[r] Vergeblichkeit“ - noch eine
„Zweckmäßigkeit für die Herrschaft“ (Ebd., S.179) attestiert, hatte nach Postone
der Holocaust weder eine politische noch eine militärische Funktion.
Postone meint,
daß der moderne Antisemitismus nicht bloß, wie Horkheimer glaubte (und wie es
im traditionellen Antisemitismus tatsächlich der Fall gewesen sei), die Juden als
„Träger von Geld“ wahrnehme. Der moderne Antisemitismus identifiziere, so
Postone, die Juden mit dem Kapitalismus in einem viel umfassenderen Sinn - der auch
den Sozialismus und den Kommunismus, als Reaktionen auf den Kapitalismus,
miteinschließe. So sei der Antisemit imstande, die Juden als geheime Macht sowohl
hinter dem Kapitalismus als auch dem Sozialismus auszumachen.
„Die Juden wurden nicht bloß als Repräsentanten
des Kapitals angesehen (in diesem Fall wären die antisemitischen Angriffe
wesentlich klassenspezifischer gewesen), sie wurden vielmehr zu
Personifikationen der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen,
internationalen Herrschaft des Kapitals [...] Die Überwindung des Kapitalismus
und seiner negativen Auswirkungen wurde mit der Überwindung der Juden
gleichgesetzt.“ (Moishe Postone, Nationalsozialisten und Antisemitismus,
http://www.anarchismus.at/antifaschismus/faschismus-und-nationalsozialismus/367-postone-nationalsozialismus-und-antisemitismus)
Für den modernen Antisemiten sei „der Jude“, so Postone, die Personifikation der „abstrakten“ (genauer: der abstrakt scheinenden) Seite des Kapitalismus. „Abstraktheit, Unfaßbarkeit, Universalität, Mobilität“ (Ebd.) – jene
Merkmale, die der moderne Antisemit den Juden zuordne, seien genau jene Merkmale, die nach der Analyse von Marx der „erscheinenden abstrakten Seite“ (Ebd.) der im Kapitalismus vorherrschenden gesellschaftlichen Formen
zukommen würden.
(Die Auseinandersetzung mit der Frage, was genau es mit der „erscheinenden abstrakten Seite“ der „im Kapitalismus vorherrschenden gesellschaftlichen Formen“ auf sich hat, i.e. die Auseinandersetzung mit Postones „wertkritischem“ Ansatz, würde sich lohnen, über den Rahmen dieses Textes aber hinaus gehen. Zu empfehlen ist die Lektüre von Postones Artikel „Nationalsozialismus und Antisemitismus“:
http://www.anarchismus.at/antifaschismus/faschismus-und-nationalsozialismus/367-postone-nationalsozialismus-und-antisemitismus).
Postone,
Adorno und Horkheimer scheinen also, indem sie der
„Unzweckmäßigkeit“ des Holocaust, in je verschiedener Akzentsetzung, das Wort
reden, Lacan recht zu geben, der die „hegelomarxistischen“ Erklärungsansätze des Holocaust wegen
eben jenes Moments der „Unzweckmäßigkeit“ für ungültig erklärt. Auf dem zweiten
Blick stoßen wir aber auf eine überraschende Paradoxie: Wenn es sich, wie Lacan
behauptet, beim Holocaust um ein Opfer für die „dunklen Götter“ gehandelt hatte,
also um ein Opfer im ursprünglichen und wörtlichen Sinn, wenn wir uns also
innerhalb der Logik des Opfers bewegen, dann bewegen wir uns zugleich - und doch
wieder - innerhalb der Logik der Funktionalität: Die Nazis opferten die Juden,
um einen - ihnen unbewußten - Zweck zu erreichen.
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