Sonntag, 3. November 2013

Warum uns Israel erregt (12)


Warum uns Israel erregt (12)

Die Sehnsucht nach jenem „herzhaften Mahl“, das nur dann zu haben ist, wenn wir „den Ritualwerten ihren angestammten Platz zurückgeben“, bildet die Quelle einer weit verbreiteten Form des Antikapitalismus. Eines Antikapitalismus der, unter Absehen von der Sphäre der Produktion, stets die Sphäre des Geld- und des Warenaustauschs im Blick hat - und die Sphäre des Konsums. Und der sich in Umverteilungsdebatten erschöpft, ohne sich für die Bedingungen zu interessieren, aus denen die Ungleichheit, die wir via Umverteilung abmildern wollen (und die man einmal Klassengegensatz nannte), überhaupt erst entsteht: Die Trennung der Arbeiter und Angestellten von den Produktionsmitteln, ihre Abfindung mit Lohn, die Profitmaximierung auf Seiten der Unternehmer.

Diesen antikapitalistischen Reflex, die Sehnsucht nach dem „herzhaften Mahl“ und das Bedürfnis, den von Lacan so genannten Ritualwerten ihren angestammten Platz zurück zu geben, teilen wir - mit den Nazis.

Eine bittere Pille, auf die Lacans dunkle Rede,

daß den dunklen Göttern zu opfern, etwas ist, dem, in einer Art monströsen Befangenheit, nur wenige nicht erliegen

zu verweisen scheint. Aber ich war bereit, sie zu schlucken, hatte ich doch den Verdacht, daß zwischen jener monströsen Befangenheit, der nur wenige nicht erliegen und jener Unfähigkeit meiner – und nicht nur meiner - Vorstellungskraft ein Zusammenhang existieren könnte.

Nachträgliche Weihe: Der Fall Kampusch

Bevor das Tier, die Frucht, der Mensch, geopfert werden kann, muß er/sie/ es geweiht werden. Erst der Akt der Weihe macht das Objekt zu einem heiligen, opferwürdigen, das - mit Lacan zu sprechen - Ritualwert produzieren kann.

Weiter oben habe ich auf den Unterschied zwischen Opfer im ursprünglichen, rituellen und Opfer im alltagssprachlichen, unspezifischen Sinn (einfach ein Geschädigter, Opfer von, Gewalt, Folter, Naturkatastrophen etc.) hingewiesen. In bestimmten Fällen neigen wir aber dazu, Opfer im alltagssprachlichen Sinn wie Opfer im rituellen Sinn wahrzunehmen und zu behandeln.

Im März 1998 wurde die damals zehnjährige Natascha Kampusch vom arbeitslosen Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil entführt - und achteinhalb Jahre in seinem Haus im niederösterreichischen Strasshof gefangen gehalten. Im August 2006 gelang ihr die Flucht. Daraufhin beging Priklopil Selbstmord. Kampuschs Flucht löste ein beispielloses internationales Medienecho aus. Was am Fall Kampusch - in Zusammenhang mit unseren Überlegungen – interessieren sollte: Die Anteilnahme, die ihr anfangs entgegengebracht worden war, ist in Österreich - heute, sieben Jahre nach ihrer Flucht - vielfach in „blanken Hass“ (Augsburger Allgemeine vom 26. Februar 2013) umgeschlagen.

Warum, das scheint keiner so recht zu wissen. "Die Erklärungen der Psychologen", Kampusch sei zu stark, agiere zu selbstbewußt etc., überbieten einander an Trivilität, und sind unbefriedigend. Übersehen wird, daß die Öffentlichkeit erst dann irritiert zu reagieren begann, als die Frage auftauchte: Ob Kampusch – am Ende auch noch freiwillig! - Sex mit Priklopil gehabt haben könnte.

Unter bestimmten Umständen befällt uns offenbar das dringende Bedürfnis, Opfer im alltagssprachlichen Sinn, so etwa das Entführungsopfer Natascha Kampusch, nachträglich, in einem imaginären Akt zum - rituellen - Opfer zu weihen.

Die Erklärung der Trivialpsychologen, Kampusch schlage blanker Hass entgegen, weil sie sich nicht wie ein „reines“ Opfer verhalte, macht Sinn, wenn wir „rein“ anders verstehen als jene Psychologen es meinen: „Rein“ nicht im Sinne von „ausschließlich“, sondern im Sinne von „rituell rein“: Geweiht, heilig „unschuldig“. Im Fall Kampusch heißt das: „Rein von sexuellem Begehren“.

Die Reihenfolge im Procedere des rituellen Opferns - ein Objekt wird zuerst geweiht, und durch den Akt der Weihe heilig, und ist erst dann opferwürdig – wird hier umgedreht: Zuerst wird jemand – im alltagssprachlichen Sinn und ohne rituelle Weihe – zum Opfer, also zum Geschädigten. Erst dann wird die oder der Geschädigte in einem Akt nachträglicher, imaginärer Weihe zum Opfer im rituellen Sinn - zum Ritualwert produzierenden Opfer.

Jenen „blanken Hass“ zog Natascha Kampusch auf sich, weil sie unserem Bedürfnis, sie als reines, heiliges Opfer zu imaginieren, zuwiderhandelte: Indem sie, so jedenfalls der Verdacht der Öffentlichkeit, (freiwillig!) Sex mit Priklopil hatte.

wird fortgesetzt

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