Sonntag, 29. Dezember 2013

Zizek in Teheran (61)


Thomas Borup: Der Buchbinder
Am häufigsten hatte ich den Übersetzer in der Bibliothek angetroffen, mittlerweile der einzige Ort im Gefängnis, wo das Rauchen in einem Innenraum noch erlaubt ist. Was aber nicht für alle Räume der Bibliothek gilt. Ich halte mich immer im großen Lesesaal auf, mit der Glasfront, und dem Blick auf Teheran, wie aus dem Flugzeug. Im Lesesaal traf bzw. treffe ich den Übersetzer immer lesend an. Mitunter raucht er beim Lesen. Und auch das - das Lesen, ob rauchend oder nicht - scheint er zu genießen.

Ich lese keine Bücher. Im Unterschied zu Vater. D.h., daß ich schon lese. Zeitungen und blogs. Im Internet. Und auch Filme. Filme kann man nicht lesen. Ich weiß. Ich lese nicht, aber ich mag den Geruch von Bibliotheken und Büchern. Zumal aus der Zeit vor der Revolution. Unter dem Kaiser. Das Material ihrer Einbände verströmt einen Kindheitsgeruch. Da las ich noch. Im Lesesaal trinke ich Kaffeeautomaten-Kaffee, aus Plastikbechern, sitzend oder stehend (ist übrigens sehr gut). Mitunter rauche ich. Nicht mehr als fünf am Tag. Vater las, wo und wann immer er konnte. Würde ich der Generation des Vaters angehören, würde ich auch lesen. Als Kind habe ich. Aber seit der Revolution nicht mehr."

Genug geschwaffelt, will ich sagen. Was ist passiert, frage ich (der Analytiker). Ich würge den Gefängnisarzt nicht mehr. Längst nicht. Und sitze nicht mehr seinem Bauch auf.

Was ist passiert meint: Daß Du nicht mehr liest. Zumal seit der Revolution. Wo man nach dieser Revolution doch erst recht. Lesen sollte.

Du kennst Adorno, LeserIn? Nein? Nur Benjamin? Irgendwo in, resp. am Anfang der Negativen Dialektik sagt Adorno (sehr sinngemäß, wenn Du es genau wissen willst, schlag nach): Nachdem die Philosophie die Welt nicht verändern hat können (bezieht sich natürlich auf Marx: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert usw.), nachdem die Philosophie also die Welt nicht verändern hat können, gilt es jetzt

nachzudenken.

Ich aber sage Euch, LeserIn: Gerade weil die Revolution Teheran sehr wohl verändern hat können, und wie, gilt es jetzt, für uns in Teheran, nachzudenken. Nachdem wir aber in Teheran nicht in der Lage sind, zu denken, machen wir uns nichts vor, heißt für uns nachdenken:

Lesen!

Was ist passiert? meint: Daß Du nicht mehr liest. Aber der Gefängnisarzt, der mich mißversteht, bezieht

Was ist passiert?

auf den Übersetzer, und fährt fort zu berichten.

wird fortgesetzt

Keine Kommentare: