Daß die
jüdischen Opfer des Holocaust als „sacrificial lambs“ gestorben sein sollen,
erinnert uns an Christus als Erlöserfigur – als Gottes Opferlamm, das
unschuldig stirbt, um uns von der Schuld zu befreien.
Nehmen wir den Mythos vom Opfertod Christi wörtlich, werden so unverdauliche
Begriffe wie Ritual(mehr)wert oder nachträgliche Weihe übrigens auf einmal verständlich: Wir schulden jemandem eine hohe Summe
Geld, jemand Dritter opfert sich, um uns von unserer Schuld zu befreien - und Sonntag
für Sonntag wird dieses Ritualwert produzierende Opfer zwecks Produktion von
Ritualmehrwert reproduziert.
Seit jenem Treffen mit U., bei dem die besagte Unfähigkeit meiner Vorstellungskraft erstmals zur Sprache kam, sind Jahre vergangen. Über
jene Unfähigkeit habe ich mit ihm nie wieder gesprochen. Morgen werden ich ihn wieder sehen. Ich werde eine Zeitung mit haben, und ihm eine
Stelle aus einem Interview mit Daniel Barenboim, dem Dirigenten, vorlesen (DIE
ZEIT vom 28. November 2013):
„Als verfolgte Minderheit einen Staat aufzubauen, das ist uns Juden
hervorragend gelungen: mit eigener Polizei, eigenen Kindergärten, eigener
Kultur, eigenen Technologien, eigenen Prostituierten ... Aber selbst die
Mehrheit zu sein und uns im eigenen Land um Minderheiten zu kümmern ... das
haben wir versäumt. Ein grober Fehler. Denn
wer, wenn nicht wir Juden mit unserer Leidensgeschichte, müsste dem Leiden
anderer gegenüber besonders sensibel sein.“ (Hervorhebung von mir)
Das Zitat aus dem Interview wird das Gespräch wieder auf jene Unfähigkeit
meiner Vorstellungskraft lenken, an der offenbar auch Barenboim leidet - oder an
einer Variante derselben.
Ich werde U. von meinen Überlegungen und Recherchen berichten:
- Daß mit unserem Unbehagen am Kapitalismus häufig die Sehnsucht einhergeht,
den von Lacan so genannten Ritualwerten ihren Platz zurückzugeben.
- Daß wir diese Sehnsucht mit den Nazis teilen.
- Daß der Holocaust als Versuch der massenindustriellen Produktion von Ritualwert
aufgefaßt werden kann.
- Daß aber offenbar auch bei uns Nachgeborenen, oder bei vielen von uns, das Bedürfnis existiert, an jenem von den Nazis produzierten Ritualwert teilzuhaben.
- Und daß an der Quelle jener Unfähigkeit meiner (und nicht nur meiner) Vorstellungskraft eben
dieses Bedürfnis vieler Nachgeborener steht:
Ich bin unfähig, mir Juden als Verbrecher vorzustellen, oder unwillig, weil ich
- indem ich die jüdischen Holocaustopfer als rein und unschuldig imaginiere
(und diese Reinheit auf „Juden und Israelis allgemein“ übertrage), sie
nachträglich - noch einmal - zu Opfern im rituellen Sinn weihe. Um so an
dem von den Nazis produzierten Ritualwert teilzuhaben.
- Ich werde es aber auch anders sagen können: Daß ich, so wie
der Theologe Ignaz Maybaum (noch einer, der an jener Unfähigkeit der
Vorstellungskraft gelitten hat), es nicht ertragen würde, wenn das größte
Verbrechen der Menschheitsgeschichte ein sinnloses gewesen sein sollte. Vielleicht
ist sinnlos bloß ein anderer Name für wertlos - im Sinne der Ritualwerte.
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