Freitag, 11. April 2014

Warum uns Psychotherapie nicht weiterhilft – Plädoyer für Psychoanalyse (6)



Was wir über die Nettigkeit, Kumpelhaftigkeit und die nicht-autoritäre Haltung des typischen „postmodernen“ Chefs gesagt haben, ist in Wirklichkeit ein Zitat – so oder ähnlich hat Analysandin A einmal ihren neuen Chef in der Analyse beschrieben.

In einer künftigen Sitzung wird sie diesen ihren neuen Chef mit dem ehemaligen vergleichen (wir können uns, da wir es mit einer fiktiven Geschichte zu tun haben, die Freiheit erlauben, „in die Zukunft zu schauen“). „Mein alter Chef“, sagt sie, habe „einen konventionellen, ein wenig autoritären, aber nicht wirklich strengen Führungsstil“ gehabt. Und dann wird ihr etwas klar: Daß sie in der Phase der psychiatrischen Behandlung genauso viel Zeitdisziplin an den Tag gelegt hätte, wie gegenüber ihrem alten Chef - unter dem neuen Chef verhalte sie sich andererseits, was die Zeit betrifft, genauso undiszipliniert wie in der Analyse. Zwar gäbe es unter dem Neuen ohnehin keine fixen Arbeitszeiten, sie komme ins Büro (die Analysandin arbeitet in einem Büro für Landschaftsarchitektur) und verlasse dieses, wann immer sie wolle. Zu den gelegentlich stattfindenden Porjektbesprechungen erscheine sie aber fast immer - und oft massiv - zu spät.

In der folgenden Sitzung wird sie eine Kette von Assoziationen ausgehend von ihrer unterschiedlichen Zeitdisziplin unter dem neuen und dem alten Chef - in die Vergangenheit führen. Sie könne sich nicht erinnern, je zu spät zur Schule gekommen zu sein. Ihr Klarinetten-Unterricht – oder zumindest die Klarinetten-Lehrerin – habe aber unter ihrer Unpünktlichkeit sehr gelitten. Die Volkschule und das Gymnasium, das sie später besucht habe, hätten sich, so wie die Musikschule, in der sie Klarinetten-Unterricht hatte, in unmittelbarer Nähe der elterlichen Wohnung befunden; den Weg zu allen drei Schulen - Volksschule, Gymnasium, Musikschule – habe sie immer alleine und zu Fuß zurückgelegt. Allerdings habe sich ihr Vater wegen ihrer Unpünktlichkeit veranlaßt gesehen, sie fallweise zum Klarinetten-Unterricht zu begleiten.

Ihr Vater sei ein leidenschaftlicher Musikliebhaber, der seinen Traum, Komponist zu werden, nicht habe verwirklichen können. Er sei Richter. Er sei es gewesen, der die Idee gehabt  hätte, die damals achtjährige Analysandin zum Klarinetten-Unterricht zu schicken. Sie korrigiert sich: „Nein, das war mein eigener Wunsch - oder?“
Wessen Wunsch es gewesen sei, daß sie Klarinette lerne - ihr eigener, oder der Wunsch ihres Vaters - könne sie nicht mit Sicherheit sagen. Eines wisse sie aber - daß sie leidenschaftlich gerne Klarinette gespielt habe bzw. - auch wenn sie kaum mehr Zeit dazu fände - immer noch spiele. Obwohl ... bei genauer Betrachtung, gäbe es auch diesbezüglich eine Unsicherheit. Und nach einem kurzen Schweigen: „Ich habe nämlich seit je her das Gefühl, daß ich das, was Vater von mir will, nicht nur befolgen, sondern auch mögen muß.“

Der Wunsch Ihres Vaters, sagt der Analytiker, soll Ihnen nicht nur Befehl sein – vielmehr soll der Wunsch Ihres Vater auch Ihr Wunsch sein.

wird fortgesetzt

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