Mittwoch, 23. April 2014

Warum uns Psychotherapie nicht weiterhilft – Plädoyer für Psychoanalyse (9)



"Wir müssen also nach den spezifischen Bedingungen suchen, die das Zeitproblem manifest werden lassen. Und - à propos ‚Zeitproblem’: Ich frage mich, ob wir dem ‚Zeitproblem’ der Analysandin gerecht werden, wenn wir es als ‚Zeitproblem’ der Analysandin auffassen, statt als ‚Zeitproblem’ in einem anderen Sinn: Als ein Problem der Zeit - unserer heutigen nämlich. Freud, schreibt Adorno, sei ‚in den innersten psychologischen Zellen auf Gesellschaftliches gestoßen’. Wenn die Analysandin sagt, sie habe das Gefühl, daß sie das, was ihr Vater von ihr wolle, nicht nur befolgen sondern auch wünschen müsse, artikuliert sie ein Gebot, das mir für die Kultur der Gegenwart typisch zu sein scheint: ‚Wo Befehl ist, soll Wunsch werden’. Dieses Gebot - oder ‚Zeitproblem’ im Sinne eines Problems unserer Zeit - ist mir erstmals bei meiner Beschäftigung mit der heutigen Arbeitswelt aufgefallen. 

Heute genügt es nicht mehr, einfach nur einen Job zu erledigen, es geht um mehr. In  Bewerbungsgesprächen etwa werden wir nicht mehr bloß nach der beruflichen Qualifikation abgeklopft - Bewerbungsgespräche sind heute eine Art Seelenbeschau: Es geht um Motivation, soziale Kompetenz, emotionale Intelligenz, Verantwortungsgefühl, Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit. Vor allem aber geht es um das Eine: Wir sind aufgefordert, uns mit ‚unserer’ Arbeit zu identifizieren. Und das nicht nur in den sogenannten kreativen Berufen. So als verkauften wir nicht nur unsere Arbeitskraft sondern unsere Seele.

Identifizieren heißt ‚Gleichmachen’. Früher sind wir in einer bestimmten Arbeitszeit unserer Arbeitspflicht nachgegangen, um danach ‚frei zu haben’, oder zu sein – heute machen wir uns mit der Arbeit gleich, sind also die Arbeit, nichts als die Arbeit und niemals frei von der Arbeit. Arbeit macht unfrei.

Das mag übertrieben erscheinen. Aber ähnelt die Situation eines Menschen, der sich heute um eine Arbeitsstelle bewirbt – und dessen Lebenslauf sich im Idealfall wie eine einzige Vorbereitung auf genau diesen Job liest, nicht der eines Liebenden, der um das Herz seiner großen Liebe ringt - und das Gefühl hat, sein ganzes Leben bisher sei nichts als ein Vorspiel zu dieser einen Liebe gewesen? Und: So wie der einen großen Liebe mehrere andere, größere oder kleinere Lieben folgen mögen, so könnte auch unser Bewerber den Job, sollte er ihn tatsächlich antreten, vielleicht bald wieder verlieren. Nicht wegen mangelnder Motivation, oder Identifikation – sondern weil er eingespart werden muß. Tatsächlich scheint zwischen der Arbeitsplatzsicherheit und dem Gebot, sich mit Herz und Seele an die – immer unsicherer werdende - Arbeit zu binden, ein umgekehrtes Verhältnis zu herrschen. Allgemeiner: Je verbreiteter prekäre Arbeitsverhältnisse sind (also Arbeitsverhältnisse mit mangelnder Arbeitsplatzsicherheit, mangelndem Kündigungsschutz, niedrigem Lohn, keiner oder zu geringer sozialrechtlicher Absicherung und fehlender Interessensvertretung) desto gebieterischer erscheint das Gebot, uns ‚unserer’ Arbeit hinzugeben und mit ihr zu verschmelzen, damit uns die Arbeit - so wie der Analysandin die Gebote des Vaters – nicht nur Befehl ist, sondern auch Wunsch."

wird fortgesetzt

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