Sonntag, 12. April 2015

Vögeln ist schön - warum wir aber nicht fliegen (6)



Hinweis: Der folgende sechste Teil entspricht dem umgearbeiteten fünften.

In der Kultur ist aber nicht bloß das Verbot enthalten, sondern auch jenes Aufbegehren, das – folgt man dem Freudschen Urhorden-Mythos - dereinst die Revolution gegen den Urvater auslöste. In der Totemmahlzeit kommt beides zum Ausdruck: Gedenken und Wiederholung. Das Beweinen des Ermordeten ermöglicht - gewissermaßen rückwirkend - die symbolische, dem Gedenken in der Dramaturgie des Rituals vorangehende Wiederholung des Mordes. Dem Gedenken folgt schließlich: „lauteste Festfreude“ (über den Mord) und die „Entfesselung aller Triebe“. Die Reproduktion des triebbefreienden, genauer: auf Triebbefreiung abzielenden, Mordes am Urvater in den Ritualen der Kultur soll den triebunterdrückenden Anteilen derselben, Nachhall der Ur-Reue nach der Revolution, entgegenwirken.

Aber der Trieb ist nicht erst seit dem Urvater-Mord in der Welt. Wir stellen uns - im Gegenteil - den Genuß des unumschränkt herrschenden, mythischen Urvaters, dem sämtliche Frauen der Horde zu Gefallen sein mußten, ungleich „voller“ vor, als den der Brüder, die nach der Tat nicht nur von Schuld und von Reue geplagt, sondern auch dem Zwang unterworfen waren, Rücksicht auf das Gemeinwohl zu nehmen.

Wenn wir nun aber in der Reproduktion des Mordes am Urvater in den verschiedensten Gestaltungen der Kultur - im Fest, im Spiel, in der Kunst, in Ritualen der Alltagskultur ..., und prototypisch in der Totemmahlzeit - eine triebbefreiende Funktion am Werk sehen, dann müßten wir der Reproduktion des Motivs jenes Mordes, also der Sehnsucht nach dem „vollen Genuß“ des Urvaters, eine ebenso starke triebbefreiende Kraft zubilligen. Wenn nicht eine stärkere.

Sollte eine solche Reproduktion – besser: der Versuch einer solchen Reproduktion - des vollen Genusses des Urvaters „irgendwo in der Kultur“ existieren, dann wäre die Praxis der Zeitehe im heutigen Iran der exemplarische Fall davon.

Der typische Zeit-Ehemann, so Mortezai in einem Interview (1), ist älter und reich, die typische Zeit-Ehefrau arm und deutlich jünger als dieser. Häufig handle es sich um Mädchen, die ursprünglich sehr jung verheiratet, und bald darauf - und häufig noch immer sehr jung - von ihren oft gewalttätigen Ehemännern geschieden worden wären, um dann „vor dem Nichts zu stehen“. Vor dem der neue, reiche Zeit-Ehemann sie dann retten würde.

Was genau heißt „sehr jung verheiratet“? Nach offiziellen Behördenangaben wurden allein im Zeitraum zwischen März 2010 und März 2011 (dies entspricht dem Jahr 1389 des iranischen Kalenders) über 42.000 Mädchen zwischen zehn und vierzehn Jahren verheiratet (2). 1974, fünf Jahre vor der Revolution, war das Heiratsalter für beide Geschlechter, internationalen Standards entsprechend, auf achtzehn Jahren angehoben worden. Nach der Revolution wurde es dann für Mädchen auf neun, für Jungen auf fünfzehn Mondjahre gesenkt. Um dann 2002 für Mädchen auf Dreizehn erhöht zu werden. Nichtsdestotrotz kann aber, das Einverständnis des Vaters vorausgesetzt, auch heute noch ein „kompetenter Richter“ Mädchen unter Dreizehn die Heiratsfähigkeit attestieren – immer wieder betrifft dies auch Mädchen unter Neun.

„Vor allem Mädchen aus armen Familien seien von solchen frühen Zwangsverheiratungen bedroht, sagt die [iranische Rechtsanwältin und Friedensnobelpreisträgerin, Shirin Ebadi] .. Das sei ‚eine Art Menschenhandel ... Denn meist werden die jungen Mädchen mit wohlhabenden Männern verheiratet. und die Eltern handeln dabei für sich hohe Brautgelder aus.’“ (3)

Die Existenz hunderttausender Kinderehen, das aus dem sozialen und dem Altersunterschied resultierende Machtgefälle sowie die (zumindest gesetzlich vorhandene) Möglichkeit der Polygamie – alles das erscheint als Reinszenierung der Position des Urvaters - der Verknüpfung von Lust und Herrschaft in der Urhorde.

wird fortgesetzt

(1) https://www.youtube.com/watch?v=6TJr_HAe5UE

(2) 

http://www.tabnak.ir/fa/news/294842/ازدواج-75-کودک-زیر-10-سال-در-تهران

(3) http://iranjournal.org/politik/gestohlene-kindheit-kinderehen-im-iran

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