Potter Stewart über Pornografie: Ich weiß zwar nicht was sie ist, aber ich erkenne sie, wenn ich sie sehe! |
Zurück zum Begriff „volle Identifizierung“. Wenn ich die
Wendung, Islamkritik, die nicht voll identifiziere, koste nicht
viel, richtig verstehe, müsste nicht-identifizierende Islamkritik, weil „kostengünstig
zu erwerben“, weit verbreitet sein. Seltsam
nur, dass nicht bloß jene Islamkritik – beziehungsweise „Islamkritik“1
– der neuen Rassisten, sondern nahezu die gesamte aktuelle europäische Islamdebatte
– vom Diskurs rechter Ethnopluralisten über jenen der Konservativen, der
Liberalen und der Grünen bis zum Diskurs linker Vertreter der Identitätspolitik
(siehe den ersten Teil dieser Replik) – auf eben dieser Ideologie der vollen
Identifizierung gründet – kaum auf jenes angeblich „kostengünstig zu erwerbende“ nicht-identifizierende
Reden über den Islam. Eine Ideologie, die sich im linken und im liberalen Reden
über den Islam etwa in der weit verbreiteten, aber unausgesprochenen Annahme
ausdrückt, islamisch geprägte Gesellschaften könnten den Weg in die Demokratie
und in die Moderne einzig und allein über eine Erneuerung des Islams finden – über einen reformierten,
liberalisierten, demokratisierten, feministischen ... Islam. Nicht etwa durch die
Emanzipation jener Gesellschaften von Religion, sprich durch eine
Säkularisierung, die dem Islam von außen jenen Platz zuweisen würde, der ihm in
einer demokratischen Gesellschaft zukommt.
Über Pornografie- und Rassismus-Diagnostik
Auch wenn ich mich in meiner Einschätzung täuschen und die volle Identifizierung von Subjekten aus islamisch geprägten Gesellschaften mit dem Islam weniger verbreitet sein sollte als ich es wahrnehme (die nicht-volle Identifizierung hingegen verbreiteter), würde dies nichts daran ändern, dass ein Reden über den Islam, das nicht voll identifiziert – mag es nun „viel oder wenig kosten“ – genauso wenig rassistisch sein kann wie nicht-identifizierendes Reden über Buddhisten, Sieben-Tage-Adventisten, Marxisten oder Anhängern der Psychoanalyse.
Rekapitulieren wir: Zwar hat Biskamp keinen – richtigen – Begriff vom neuen Rassismus, dennoch aber vermag er den Rassismus in Fällen, in denen voll identifiziert, der Islam also tatsächlichen oder vermeintlichen Muslimen als „Natureigenschaft“ zugeschrieben wird, als Rassismus zu erkennen. Auch wenn er diesen Phänomenen den falschen Begriff „antimuslimischer Rassismus“ zuordnet. Hier gilt die berühmte Formel des US-Höchstrichters Potter Stewart über Pornografie: „Ich weiß zwar nicht, was sie ist, aber ich erkenne sie, wenn ich sie sehe!“
Aber: Der falsche Begriff „antimuslimischer Rassismus“, macht
ihm dann Probleme, wenn er Positionen begegnet, auf die der Begriff „antimuslimisch“
zwar zutrifft, die aber nicht voll
identifizieren und folglich nicht rassistisch sein können – die er aber, der
falschen Logik „antimuslimisch = rassistisch“ folgend, als rassistisch
auffassen muss. Um es nochmals zu betonen: „Antimuslimische“ Positionen als
solche können, weil der Begriff „antimuslimisch“ immer den real existierenden
muslimischen Glauben meint, genauso wenig rassistisch sein wie
antikommunistische oder antikatholische. Rassistisch sind sie dann – und nur
dann – wenn sie zusätzlich auf das
voll identifizierende kulturalistische Konstrukt „Islam als Natureigenschaft“ verweisen.
Wie Stewart die Pornografie, vermag Biskamp den neuen Rassismus, wann immer er ihm konkret begegnet, also zu erkennen. Auch wenn weder Stewart einen Begriff von Pornografie hat, noch Biskamp vom neuen Rassismus. Um es in der Sprache der medizinischen Labordiagnostik zu sagen: Wie Stewart in der Pornografie-Diagnostik gelangt Biskamp in der Rassismus-Diagnostik zu „richtig positiven“ Resultaten. Allerdings verleitet die falsche Verknüpfung von „antimuslimisch“ und „rassistisch“ Biskamp auch zu „falsch positiven“ Resultaten: Er läuft Gefahr, zum einen religionskritische Positionen, zum anderen aber auch alle möglichen Formen der Hetze als rassistisch zu verkennen.2
Stürzenberger oder die volle Identifizierung der Unmoral mit dem Rassismus
Um einen solchen Fall „falsch positiver“ Rassismus-Diagnostik handelt es sich möglicherweise bei Biskamps Urteil über Michael Stürzenberger, auf den er verweist, um den Zusammenhang zwischen voller Identifizierung und Rassismus zu widerlegen:
Wie Stewart die Pornografie, vermag Biskamp den neuen Rassismus, wann immer er ihm konkret begegnet, also zu erkennen. Auch wenn weder Stewart einen Begriff von Pornografie hat, noch Biskamp vom neuen Rassismus. Um es in der Sprache der medizinischen Labordiagnostik zu sagen: Wie Stewart in der Pornografie-Diagnostik gelangt Biskamp in der Rassismus-Diagnostik zu „richtig positiven“ Resultaten. Allerdings verleitet die falsche Verknüpfung von „antimuslimisch“ und „rassistisch“ Biskamp auch zu „falsch positiven“ Resultaten: Er läuft Gefahr, zum einen religionskritische Positionen, zum anderen aber auch alle möglichen Formen der Hetze als rassistisch zu verkennen.2
Stürzenberger oder die volle Identifizierung der Unmoral mit dem Rassismus
Um einen solchen Fall „falsch positiver“ Rassismus-Diagnostik handelt es sich möglicherweise bei Biskamps Urteil über Michael Stürzenberger, auf den er verweist, um den Zusammenhang zwischen voller Identifizierung und Rassismus zu widerlegen:
„Ich nehme an, dass wir uns bei ihm [i.e. bei Stürzenberger, Anm. von mir ] relativ schnell einig werden, dass er ein rechter Hetzer ist [...] Es lässt sich nicht ohne weiteres zeigen, dass der Islam in seinen politischen Reden nur eine Ausrede ist, um gegen Zuwanderung oder gegen Menschen mit Migrationshintergrund zu hetzen. Vielmehr bezieht er explizit eine liberale, menschenrechtliche Position, von der aus er den Islam als Bedrohung für die Freiheit aller beschreibt – und zwar in Europa ebenso wie in der arabischen Welt, im Iran oder sonstwo. Er will nicht nur München und Paris, sondern auch Teheran und Riad von der Bedrohung durch islamische Herrschaft befreien. Es ist leicht aufzuzeigen, dass Stürzenbergers scheinbarer Liberalismus zutiefst autoritär, verhärtet und antiliberal ist. Ebenso leicht ist es darzulegen, dass sein Bild vom Islam grob verzerrend ist.“
Und:
„Indem Maani die volle Identifikation zu einem entscheidenden Kriterium macht und der Kritik des antimuslimischen Rassismus vorwirft, diese zu reproduzieren, [...] legitimiert er implizit jede „Islamkritik“, die nicht voll identifiziert und dies nicht zu tun, kostet nicht viel. Auch bei Stürzenberger, der sich ja positiv aus Islamkritikerinnen aus islamisch geprägten Ländern sowie auf liberale Musliminnen bezieht, wäre diese volle Identifikation letztlich schwer nachzuweisen.“
Folgen wir Biskamp, scheint Stürzenberger also nicht voll zu identifizieren. Er scheint also im Unterschied zu den Neorassisten von AfD, PEGIDA,und Co, mehr noch: im Unterschied beinahe zum gesamten aktuellen Islam-Diskurs in Europa, Menschen aus islamisch geprägten Gesellschaften nicht als Angehörige einer „fremden Kultur“ – i.e. der „islamischen“ – aufzufassen, sondern als eigenständige Subjekte. Dennoch aber ist er, Biskamp zufolge – und in diesem Punkt wollen wir seinem Urteil vertrauen – ein rechter Hetzer, dessen „scheinbarer Liberalismus zutiefst autoritär, verhärtet und antiliberal ist.“
Das Problem, mit dem Biskamp hier konfrontiert ist – und das er als ein Problem meiner Texte missversteht – haben wir schon erwähnt: Weil Stürzenberger offensichtlich antimuslimische Positionen einnimmt, muss Biskamp, als Vertreter des Begriffs „antimuslimischer Rassismus“, diese konsequenterweise als rassistisch auffassen.
Indem er sich gleichsam fragt: „Wie ist es möglich, dass Stürzenberger, der nicht voll identifiziert, dennoch rassistische Positionen vertritt?“, überträgt er das Problem, das sich bei der Anwendung seines Begriffs „antimuslimischer Rassismus“ auf das Phänomen Stürzenberger ergibt, auf meine Texte. Sobald wir aber sein Problem mit dem Hinweis auf die Selbstverständlichkeit aufzulösen versuchen, dass der Islam-Diskurs Stürzenbergers, falls er und sofern er nicht voll identifiziert, eben kein rassistischer sein kann – verbunden mit der Aufforderung, Biskamp möge, statt den Widerspruch, mit dem er bei Stürzenberger konfrontiert ist, auf meine Texte zu übertragen, sich mit seinen eigenen Begriffen auseinandersetzen, zeigt sich ein weiteres Problem Biskamps – und zwar mit der vollen Identifizierung. Nicht so sehr in Bezug auf die Frage, ob Stürzenberger „voll identifiziert“ oder nicht, sondern in seinem eigenen Denken. Wenn er schreibt, dass ich, indem ich „die volle Identifikation zu einem entscheidenden Kriterium“ für den Rassismus mache, implizit jede „Islamkritik“ legitimiere, die nicht voll identifiziert – also auch den Islam-Diskurs eines Hetzers wie Stürzenberger –, geht er offenbar von einer seltsamen Verschränkung, ja von der vollen Identität der Kategorie des Rassismus mit der Kategorie des moralisch Unzulässigen aus. Von der Umkehrung der Formel:
Jeder Rassismus = unmoralisch
in die Formel:
Alles Unmoralische = rassistisch.
Hier scheint Biskamp, wie so viele linke und liberale Zeitgenossen, auf den Rassismus lediglich moralisch zu reagieren. Wenn aber Entrüstung die begriffliche Auseinandersetzung ersetzt, kann offenbar alles mögliche, moralisch unzulässige dem Rassismus subsummiert werden.
Von der unspezifischen Gleichsetzung von Marginalisierung und Stigmatisierung mit Rassismus war schon die Rede. In Sachen Stürzenberger ignoriert Biskamp eine weitere Selbstverständlichkeit: Hetze ist zwar immer moralisch unzulässig – aber nicht immer rassistisch. Um ein beliebiges Beispiel zu nennen: McCarthys fanatische Hexenjagd auf Kommunisten war ohne Zweifel hetzerisch, aber nicht rassistisch. Dies würde sogar dann zutreffen, wenn McCarthy als Person nicht nur ein Kommunistenhasser sondern „zusätzlich“ auch noch Rassist gewesen sein sollte. Seine Kommunistenhatz wäre dann dennoch nicht rassistisch, schlicht weil der Hass auf Kommunisten genauso wenig rassistisch sein kann wie der Hass auf Muslime – als Muslime. Sollte Stürzenbergers Diskurs den Islam tatsächlich nicht als Natureigenschaft auffassen, kann dieser dennoch hetzerisch und hasserfüllt sein (und daher selbstverständlich moralisch unzulässig), ohne jedoch die Kriterien des traditionellen oder auch des neuen kulturalistischen Rassismus zu erfüllen.
Der Unterschied zwischen rassistischer und nicht-rassistischer Hetze lässt sich gut anhand des Phänomens des religiösen Hasses demonstrieren: Während der Rassist Fremde ausgehend von imaginierten biologischen und genetischen Kategorien rassifiziert und hasst oder diese – im Falle des neuen kulturalistischen Rassismus – als Angehörige einer unabänderlich fremden, von seiner „eigenen“ kategorisch verschiedenen „Kultur“ identifiziert, hasst der religiöse Hetzer Angehörige einer bestimmten Religion „lediglich“ als Angehörige jener Religion. Sollte ein Angehöriger der gehassten Religion seinem Glauben abschwören und den Glauben des religiösen Hetzers annehmen, würde ihn letzterer mit offenen Armen in seiner Glaubensgemeinschaft willkommen heißen. So wie ihn Biskamp beschreibt, scheint diese Charakterisierung mutatis mutandis auch auf Stürzenberger zuzutreffen, auch wenn dieser sich selbst – im Unterschied zum idealtypischen religiösen Hetzer – nicht als Anhänger einer bestimmten Konfession definieren sollte.
Noch ein Wort zu Biskamps Urteil über Stürzenbergers Islambild:
„Ebenso leicht ist es darzulegen, dass sein Bild vom Islam grob verzerrend ist.“
Auch in diesem Punkt wollen wir Biskamps Einschätzung vertrauen und davon ausgehen, dass Stürzenberger tatsächlich ein „grob verzerrendes“ Bild vom Islam hat. Obwohl ich seit Jahren immer wieder die Erfahrung mache, dass bei Diskussion über den Islam es fast immer meine wohlwollenden und weltoffenen, linken und liberalen Freunde sind, die eine verblüffende, vom Wunschdenken geprägte Unkenntnis des Islam und seiner Geschichte an den Tag legen. Während meine rechten und rassistischen Feinde in der Regel weit besser über den Islam bescheid wissen. Hier zeigt sich eine weitere Problematik, die aus einem falschen Begriff vom neuen Rassismus resultiert: Rassisten – wie Antirassisten – mögen mitunter ein falsches oder „grob verzerrendes“ Bild vom Islam haben. Aber: Die mangelnde Kenntnis einer Glaubenslehre oder Glaubenspraxis ist genauso wenig rassistisch – wie die richtige Kenntnis einer Religion antirassistisch. Rassistisch sind die neuen Rassisten nicht deshalb, weil sie über zu wenige oder falsche Informationen über den Islam verfügen. Sondern weil sie dem Islam in ihrer Sicht auf islamisch geprägte Gesellschaften – und auf tatsächliche oder vermeintliche Muslime – einen falschen Platz zuweisen. Weil sie den Islam als „Kultur“ – und Kultur als Natur, sprich als unabänderliche, quasi-biologische Kategorie auffassen.
Wer diese Grundvoraussetzung des neuen Rassismus verkennt und – statt das Konstrukt „Islam als Natureigenschaft“ zu erkennen und zu dekonstruieren – den real existierenden Islam mit stereotypen Formeln („Den Islam gibt es nicht!“, „Das hat doch mit dem Islam nichts zu tun!“ usw.) zu verteidigen sucht, gibt zum einen den Rassisten Recht – lässt er doch deren Konstrukt „Islam als Natureigenschaft“ unwidersprochen gelten. Zum anderen fällt er dem Antirassismus in den Rücken: Weil er dem Missverständnis unterliegt, dass kritische, ablehnende oder feindselige Aussagen über den Islam „rassistisch“ sein könnten, und die Inschutznahme des Islam folglich antirassistisch, nimmt er in Kauf, dass jedes Mal, wenn sich Rassisten in Sachen Islam als die besser Informierten erweisen, der Eindruck eines „Sieges für den Rassismus“ entsteht.
Und – warum ist das überhaupt wichtig?
Aber: Ist diese ganze Anstrengung des Begriffs denn überhaupt wichtig? Wenn Einigkeit darüber herrscht, dass religiöser Hass zum Beispiel genauso abzulehnen ist wie der alte und der neue Rassismus – warum sollen wir uns um ihre Unterscheidung bemühen? Sollten wir solch spitzfindige Diskussionen nicht Politikwissenschaftlern oder Linguisten überlassen?
Sollten wir nicht. Denn: Genauso wie Religionsfreiheit kann auch die Überwindung religiösen Hasses – der im Moment wieder um sich greift, denken wir nur an den mörderischen Hass mancher Sunniten auf Schiiten – einzig durch die Emanzipation der Gesellschaft von Religion erreicht werden. Nicht etwa durch einen interreligiösen Dialog. Die Emanzipation der Gesellschaft von Religion wiederum ist ohne radikale Religionskritik nicht zu haben. Genau diese Religionskritik wird nun aber durch Begriffe wie „antimuslimischer Rassismus“, „Islamophobie“ etc., die auch in islamisch geprägten Gesellschaften beliebt sind, und uns suggerieren, dass Religionskritik rassistisch – sprich unmöglich – sein kann, hintertrieben. So werden etwa im Iran Stimmen, welche die Emanzipation der Gesellschaft von der Religion fordern, regelmäßig mit dem „Islamophobie-Argument“ konfrontiert und oft buchstäblich mundtot gemacht.
Und à propos Religionsfreiheit: Auch die Tatsache, dass Muslime heute in den liberalen Demokratien des Westens weit mehr Religionsfreiheit genießen als in vielen islamisch geprägten Gesellschaften (man denke an die Unterdrückung von Schiiten im wahhabitischen Saudi-Arabien, der Aleviten in der Türkei oder moslemischer Derwische im Iran) ist nicht das Resultat eines interreligiösen Friedensvertrags zwischen dem Christentum und dem Islam – sondern wiederum das Ergebnis der Emanzipation der Gesellschaft von Religion. Eine Emanzipation, die undenkbar wäre, ohne die radikale Religionskritik der Aufklärer des 18. Jahrhunderts. Dass falsche Begriffe wie „antimuslimischer Rassismus“ Religionskritik – und somit jene Emanzipation der Gesellschaft von Religion – hintertreiben, auf die unter anderem auch die Religionsfreiheit der Muslime in westlichen Demokratien gründet, ist eine der seltsamen Paradoxien der aktuellen Islam-Debatte.
Selbstgespräch über „Betroffene“
Seit Jahren bin ich bei Diskussionsveranstaltungen über den Islam mit einem seltsamen Phänomen konfrontiert. Wenn Vertreter von Begriffen wie „antimuslimischer Rassismus“, die sich selbst als Vertreter der marginalisierten Gruppe der „Muslime“ verstehen, jenen „Betroffenen“ – also Individuen aus islamisch geprägten Gesellschaften – begegnen, vertreten die „betroffenen“, vermeintlichen und auch tatsächlichen Muslime fast ausnahmslos religionskritische, oft auch dezidiert „antimuslimische“ Positionen. Worauf die Vertreter jener identitätspolitischen Begriffe mit Irritation und Verstörung, mitunter auch mit Empörung reagieren.
Kann es sein, dass identitätspolitische Diskurse weniger mit real existierenden „Betroffenen“ zu tun haben? Dass es sich dabei vielmehr um ein Selbstgespräch – eine Art moralische „Selbstbespiegelung“ handelt? Um die narzisstische Sorge vieler Zeitgenossen, um die Reinheit und „Sauberkeit“ ihrer politischen Aussagen und Ansichten? Um ihr Bemühen, die Achtung ihres Über-Ichs zu gewinnen?3
Mit den Worten eines jener „Betroffener“ – des linken syrischen Theoretikers Sami Alkayial – möchte ich diese Replik schließen:
„In ihrem Traditionsdiskurs zur ‚Produktion des Opfers’ und ‚der Verteidigung der Minderheiten’, haben die meisten Linken eine Denkweise angenommen, in der Angehörige der unteren Schichten mit nahöstlichem Migrationshintergrund nicht als Individuen, sondern lediglich als Masse wahrgenommen werden, in der es keine Spaltungen und keine Vielfalt, sowie keine Kämpfe und keine Dominanzbeziehungen gibt. Sie nennen diese Masse „die Muslime“, ein Ausdruck, der auch dann rassistisch ist, wenn er gebraucht wird, um diese Menschen zu verteidigen, denn es handelt sich um die Reduzierung von [...] Komplexitäten auf einen Faktor und zwar auf den der Religion, sowie die Objektivierung und Stereotypisierung des Menschen auf religiöse Zeichen und Phänomene. Dadurch werden nur die konservativen und rückständigen Tendenzen wahrgenommen und ausgedrückt.“ 4
Ende
1 Die Anführungszeichen in die wir die „Islamkritik“ der Rassisten hier setzen, beziehen sich nicht auf das Wortteil „kritik“, sondern auf den „Islam“. Nicht darauf, dass Rassisten ein falsches oder verzerrtes Bild vom Islam als solchen hätten (das mag unter Rassisten wie auch unter Antirassisten vorkommen. Mangelnde Kenntnisse von einer Glaubenslehre machen aber niemanden zum Rassisten), sondern darauf, dass sie dem Islam in ihrer Sicht auf islamisch geprägte Gesellschaften sowie auf tatsächliche oder vermeintliche Muslime – wie unten gezeigt – einen falschen Platz zuweisen. Weil sie den Islam als „Kultur“ – und Kultur als unabänderliche, quasi-biologische Kategorie auffassen.
2 Nicht auszuschließen, dass diese aus der Anwendung falscher Begriffe resultierende „diagnostische Unsicherheit“ eine andere Quelle jenes generalisierten Misstrauens bildet, das den Kommentar durchzieht.
3 Vgl. dazu Slavoj Zizek, Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2015, S. 137
4 Sami Alkayial, Der Krieg in Syrien und die Krise linker Traditionen
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