Mittwoch, 5. Februar 2020

Die Suche nach dem Österreichischen bei Sama Maani - von Matej Šetinc

Die Erzählung Der Heiligenscheinorgsamus kreist obsessiv um die Frage ...
„Die Gegenwartsliteratur ist eminent politisch, allerdings auf andere Weise als erwartet und die Literaturwissenschaft, die (nach Roland Barthes) die Sprache der Literatur verdoppelt, fügt dem kritischen, aber polyphonen Diskurs der Literatur eine weitere Ebene hinzu” (Neuhaus/Nover 2019: 12).
 
   schreibt Stefan Neuhaus im 2019 erschienenen Sammelband “Das Politische in der Lite­ratur der Gegenwart” in der die Literatur zwischen 1995 und 2016 im Fokus steht.

Solches kann man auch von literarischen Werken von Sama Maani behaupten, der allerdings in dieser Monographie nicht erwähnt und bearbeitet wird. Seine Literatur ist durch und durch politisch. Er fügt aber, noch bevor sich die Literaturwissenschaft kom­mentierend einschaltet, selber weitere Ebenen des Diskurses hinzu, denn er schreibt nicht nur Romane, Erzählungen und Poesie, in denen das Politische eine ästhetische Funktion annimmt, sondern konfrontiert, analysiert und kritisiert Entwicklungen in Politik und Ge­sellschaft in essayistisch-literarischer Form mit Hilfe von Theorien der Psychoanalyse und der Philosophie, wie es im Motto seines Blogs in der Zeitschrift “Der Standard” lautet.

Seine Themen bearbeitet er also, indem er sie in drei für ihn wesentliche Diskurse projiziert, den ästhetischen, den politisch-philosophischen und den psychoanalytischen. So stellt sich nun die Frage, ist er ein Literatur schreibender Psychoanalytiker, ist das Ästhetische ein Ausdrucksmittel der Psychoanalyse geworden oder umgekehrt und hat die Psychoanalyse eben Eingang gefunden in die Literatur und wurde durch die Gesetz­mäßigkeiten des ästhetischen Raumes zu etwas anderem umgewandelt, ähnlich wie das mit dem Politischen geschah? Oder aber werden beide Räume, das Ästhetische - mit all seinen politischen Implikationen und das Psychoanalytische - letztendlich zurückgeholt in die Dimensionalität der empirischen Welt, wo sie abermals beginnen, politisch zu wirken? Hat der literarische, der ästhetische Aspekt einen guten Grund, sich der Urangst der Literatur vor politischem Engagement zu erinnern? Es ist evident, dass Maanis Lite­ratur nicht auf Autonomieästhetik aufbaut, gar nicht erst versucht, über den Einfluss der Zeit erhaben zu sein. Ebenso wenig kreuzt sie aber auch die Umlaufbahn der Agitprop-Literatur. Was seine literarischen Subjekte antreibt, die gesamte Handlung prägt, ist die Frage, wie man zum Subjekt wird in einer Zeit, deren Wesen nach wie vor auch ein po­litisches ist, eine Tatsache, die jedoch anscheinend für das Subjekt nicht mehr bildend sondern abträglich ist.

Diese Fragestellung, die literarisch bearbeitet wird, hat ihren Ursprung in der em­pirischen Realität, wirkt aber ebenso auf diese zurück. Es geht um Fragen, bei denen man sich als reflektierendes europäisches Subjekt durchaus angesprochen fühlt. Wie die Anomalien des Politischen, wie das Pathologische an einer Gesellschaft, in der nationa­le Identitäten das Subjekt als Träger des Politischen zum großen Teil verdrängen, von Sama Maani literarisch gefasst werden, werden wir am Beispiel seiner Erzählung Der Heiligenscheinorgasmus zeigen. Anhand dieser Erzählung können wir paradigmatisch sein Verfahren darstellen, das ähnlich auch anhand seines jüngsten Romans “Teheran Wunderland” aufgezeigt werden könnte. Dass die Verknüpfung zwischen dem Menschen als schierem Lebewesen und seiner politischen Dimension auf keine Weise ausgeblendet werden kann, wird in dieser Erzählung unmissverständlich vor Augen geführt.

Genau in diese Richtung verläuft aber auch ein großer Teil des Diskurses in der erwähnten Monographie Das Politische in der Literatur der Gegenwart. Dass dabei die Frage nach dem Politischen in der Literatur zugleich auch eine Frage nach dem poli­tischen Subjekt ist, hierauf verweist auch die Abhandlung von Immanuel Nover über Aischylos' Die Schutzflehenden und Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen, in der er an Heideggers Begriff des Miteinandersprechendseins in dessen Abhandlung über die Grundbegriffe der Aristotelischen Philosophie ansetzt. Ohne das Miteinandersprechend­sein nämlich gibt es das Subjekt nicht. Es handelt sich um eine grundlegende Bestim­mung des Daseins und zwar nicht bloß im Sinne eines Nebegestelltseins. Wesentlich dabei ist nämlich Kommunikation, Mitteilung, Widerlegung, Auseinandersetzung, etc. Bei Aristoteles ist die intersubjektive Kommunikation nicht nur die Grundeigenschaft des zoon logon echon, des vernünftigen Lebewesens, sondern auch die des zoon politi­kon, des Menschen als bereits seinem Wesen nach einem sozialen, politischen Wesen.

Bei Hannah Arendt, einer der eminentesten Theoretikerinnen des Politischen, ist der Mensch seinem Wesen nach zunächst a-politisch. Das Politische gehört nicht zu seiner angeborenen Essenz; das Politische entsteht erst Zwischen-den-Menschen, liegt außer­halb des Menschen. Es ist etwas durch den Menschen Hervorgebrachtes, ein Akt der po­litischen Subjektivierung. Bestehen und Sich-Austragen kann sich das Politische also nur in dem zwischen den Menschen liegenden Raum der Auseinandersetzung. Arend spricht in ihrem Buch “Vita Activa oder Vom Tätigen Leben” vom sogenannten Erscheinungsraum. Es ist ein Raum der Diskussion und Subjektivation, der auch ein Raum der legitimen politi­schen Versprachlichung ist.

  Detailliertere Einsichten in Arends Konzept des Politischen finden wir in der Studie von Kahraman Solmaz. Er macht darauf aufmerksam, dass es bei Arendt ein politisches, ein vor-politisches (sowie auch ein nichtpolitisches) Handeln gibt: „Während das politische Handeln seinen Ort in einem gesicherten Raum der Freiheit findet, in dem die Menschen versuchen, die Meinung der anderen über verschiedene gemeinsame Angelegenheiten durch Reden und Überre­den sowie durch die Eröffnung unterschiedlicher Perspektiven zu verändern, findet das vor-politische Handeln in einem ungesicherten Raum der Erschei­nungen statt, in dem sich die Menschen mit der Absicht aufeinander zu be­wegen, etwas Neues in die Wirklichkeit zu rufen oder bestimmte Prozesse zu durchbrechen.” (Solmaz). Der Erscheinungsraum eröffnet sich also bei Arendt im Bereich des Vor-politischen, das auch der Raum des Agonalen ist.

Bei Carl Schmitt ist der Raum des Zwischenmenschlichen ein Raum des Antagonis­mus und der Auseinandersetzung, bei der es unweigerlich zur Vernichtung des politischen Feindes kommt. Im Gegensatz hierzu sieht Chantal Mouffe, eine der prominentesten Ver­treterinnen eines agonistischen Pluralismus, in ihrer agonalen Demokratietheorie, die sich von Schmitt abgrenzt, die Möglichkeit im „gemeinsamen symbolischen Raum” (Mouffe 2007: 14) das Subjekt mit einer Stimme zu versehen, die es erheben darf und die gehört werden kann. Der Entzug dieser Stimme durch Machtstrukturen bedeutet den Entzug der politischen Subjektivität und nach Aristoteles und Heidegger auch den der menschlichen Subjektivität.

Nun sind die literarischen Texte Sama Maanis erfüllt von politischer Thematik. Die Erzählung Der Heiligenscheinorgasmus kreist geradezu obsessiv um die implizite Frage - wie werde ich zum Österreicher. Der Ansatz ist aber keineswegs von vorne herein ideo­logisch, es handelt sich also nicht um einen politischen Text in literarischem Gewand. Vielmehr wird die Frage der Subjektivierung in direkte Abhängigkeit von dem Problem der fehlenden nationalen Zuordnung gebracht. In was für einen politischen Raum stellt Sama Maani seine literarischen Subjekte? Sind sie überhaupt des Sich-Einsetzens als Subjekte fähig? Treten Sie in den Zustand des agonistischen Pluralismus, um sich da­durch zu behaupten?
Um diese Fragen beantworten zu können, begeben wir uns zuerst auf den Weg durch das literarische Feld unserer Erzählung:

Der Heiligenscheinorgasmus

Im Lichte unseres Nachdenkens über das (politische) Subjekt sei vorab bemerkt, dass der Text in der ersten Person erzählt wird und dass der Icherzähler namenlos bleibt. Die Erzählung „Heiligenscheinorgasmus” beginnt mit einer dramatischen Szene auf dem Zürcher Hauptbahnhof, die wie ein Prolog wirkt. Es ist ein öffentlicher, anonymer Raum, ein Raum, wo Menschen vorübergehen, sich ignorieren, kein Forum. Versprach­licht werden hier Ankünfte und Abfahrten. Menschen erscheinen in diesem Raum und verschwinden wieder. Es ist aber auch der Raum, in dem der Ich-Erzähler auftritt. Sein erster Satz lautet: „Mein Leben in Zürich begann mit einer Lüge.” (Maani 2016: 9) Im nächsten Satz erfahren wir, das er sich ins Cafe Les Arcades gesetzt hat und einen ent­koffeinierten Café Crème bestellte. Das wäre ein völlig belangloses Detail, hätte Sama Maani nicht auch einen Blog geschrieben über entkoffeinierten Sex und entkoffeinier­te Politik (Vergleiche: https://derstandard.at/2000056397418/Wie-sexuelle-Autonomie-die-Lust-toetet, https://derstandard.at/2000056794055/Von-der-entkoffeinierten-Sexualitaet-zur-entpolitisierten-Politik, April 2017). In der Tat sind Sex und Politik zwei Hauptthemen unserer Erzählung. Um diesen Hintergrund ein bisschen zu erläutern - Maani behauptet, dass unsere „aktuelle Haltung zur Sexualität und unser Verhältnis zur Arbeit keineswegs von Hedonismus und Materialismus bestimmt sind, sondern, im Gegenteil, von asketischen Idealen” (https://derstandard.at/2000056794055/Von-der-entkoffeinierten-Sexualitaet-zur-entpolitisierten-Politik, Mai 2017) und dass „Askese und Narzissmus das radikale ‚Desinteresse an den Objekten der Außenwelt’ als Wesensmerkmal miteinander teilen.” (Maani: Mai 2017) Wenn wir nun den Text wei­terlesen, zeigt sich rückblickend, dass Maani den Ich-Erzähler seiner Erzählung tatsäch­lich als einen Asketen und Narzissten auffasste. Es zeigt sich bald, dass der gesamte innere Monolog um den Focus der nationalen Identität kreist sowie die Unmöglichkeit, das damit in Verbindung stehende Glück im persönlichen Leben zu erlangen. Im dritten Satz wird dann bereits das Problem der gesamten Erzählung und der neuralgische Punkt des Ich-Erzählers formuliert. Eine Zürcherin, die sich zu ihm setzt, fragt ihn, offensicht­lich durch sein ausländisches Aussehen angeregt, wo er denn herkomme. Das löst eine Sprachlawine aus und ergibt den Auftakt zu seiner schweizerischen Existenz in Gestalt der erwähnten Lüge. Diese besteht darin, dass der Erzähler eine Geschichte erfindet, wie seine Eltern aus Pakistan kommend in die verschiedensten europäischen Staaten umsie­delten bis sie schließlich in Graz landeten weshalb sich nicht sagen lasse, wo genau er herkomme. Der Erzähler wird durch die Erläuterung zunehmend derart in Rage versetzt, dass die Zürcherin eilends aus dem Café flüchtet. Dabei ist seine Geschichte eigentlich nicht weit entfernt von der Wahrheit, denn er ist Sohn persischer Immigranten, die mit ihm, als er zwölf Jahre alt war, nach Graz kamen. Durch die sogenannte Lüge pointierte der Icherzähler, wie wenig geographische Zuordnungen über einen Menschen aussagen, wobei der Unterschied zwischen Pakistan, Iran etc. sowieso keine Rolle spielt, da die Frage nach der Herkunft selbst für ihn schon beleidigend ist. Dies erscheint einerseits plausibel, andererseits höchst übertrieben. Das Hauptproblem des Icherzählers ist damit blossgelegt, gleichzeitig aber auch das einer Gesellschaft, in der anscheinend ethnische Differenzen nicht ansprechbar sind, da sie prinzipiell als unkorrekt empfunden werden. Dies wäre in der Erzählung der erste Raum, der sich den Protagonisten verschiedener eth­nischer Herkunft öffnete und zur Verfügung gestellt würde um das Miteinander-sprechen über bestimmte, für sie relevante politische Themen zu ermöglichen. Es ist ein Raum für die potentielle Austragung von Handlungen, durch die sie sich als vernünftige und politi­sche Wesen erweisen und so ihre Subjektivität erlangen könnten. Doch scheitern sie alle. Ihr Sprechen ist auf Beleidigen, Bedrohen, Beschimpfen begrenzt, ist Feindseligkeit. Sie sprechen nicht miteinander, sondern gegeneinander.

Ähnlich verhält es sich bei der Seziersaalszene. Worum geht es hier? Fünf Personen treten auf. Ihre Subjektivität ist stark reduziert. Sie treten nur als Träger national-populis­tischer Identitäten in Erscheinung, groteske Figuren fast wie aus einem Marionettenthe­ater, genannt die „österreichischen Faschistenkollegen” (Maani 2016: 2) Laszlo, Walter und Hanno, die, Nomen est Omen, dastehen für Ungarn, Deutschland und Österreich. Die vierte Person ist der „liebenswerte, aus Deutschland stammende Freund” (Maani 2016: 2) Hanfried Zaun, der eben das andere, zivilisierte und weltoffene Deutschland repräsen­tiert. „Der gutmütige, bundesdeutsche Zaun” (Maani 2016: 2) wird er auch genannt. Die fünfte Person ist natürlich der Ich-Erzähler.

Während ihrer Tätigkeit brüllen also Walter, Laszlo und Hanno, sie sezierten ge­rade die Leber, die Milz oder das Herz eines Juden, und sie würden jedem jüdischen Mann, Frau oder Kind, das ihre medizinische Praxis aufsuchte, mit dem Seziermesser ins Herz stechen. Der Ich-Erzähler sitzt dabei auf seinem Hocker und sagt nichts, tut nichts, mischt sich keineswegs ein. Er erkennt sie zwar als faschistische Seziertischkollegen, bleibt aber regungslos und stumm, protestiert auf keine Weise gegen die Verruchtheit des symbolischen Tötens von Juden, was ihn eigentlich in die Position der Mitwisserschaft bringt. Die Situation spiegelt durchaus den realen Judenhass der empirischen Wirklich­keit wider, wie er sowohl in Mitteleuropa als auch im Iran historisch und gegenwärtig vorhanden ist. Der Ich-Erzähler greift nicht ein, entweder weil er gelähmt durch Angst ist, oder weil man angesichts einer solchen Barbarei einfach sprachlos, entrüstet ist. Dies würde besagen, dass es im politischen Raum keinerlei Mittel dagegen gibt oder, noch schlimmer, obwohl er zwar das faschistische Benehmen erkennt und kritisch beurteilt, ihm das aber unter den gegebenen Umständen ganz recht ist, insofern der blanke Hass der neuen Faschistengeneration sich nur gegen fiktive Juden und eben nicht gegen ihn wendet. Er bleibt trotz seiner persischen Herkunft für die drei faschistischen Kollegen als mögliches Ziel des Rassenhasses uninteressant, verkannt, unsichtbar. Dadurch wird die Erwartung des Lesers, der sich hinsichtlich solcher faschistischer Ausschweifungen logischerweise vorstellt, nun komme bald auch unser persischer Icherzähler an die Reihe, enttäuscht. Warum passiert das nicht? Anscheinend doch, weil sowohl die drei faschis­tischen Seziertischkollegen wie auch der Icherzähler allesamt im Kreislauf ihrer Ängste umherjagend gefangen sind in ihrer eigenen Welt und sich also gar nicht in jenem selben Raum befinden, in dem sie miteinander sprechen könnten.

In unserem Text kommt es im Folgenden zu einer Erweiterung der Szene, denn in den Seziersaal tritt der sogenannten freundliche bundesdeutsche Kollege. Dieser wird aber nicht einfach ignoriert. Er betritt vielmehr den Raum auf solche Weise, dass er von den drei Faschisten als potentielles Opfer ihrer Aggression und als Feind erkannt wird. Er wird im Wiener Dialekt bedroht, indem einer ihm das Seziermesser vor den Augen hält und sagt: „Wüst a Sezziermesser im Bauch?” (Maani 2016:7) An dieser Stelle erst wächst die Empörung des Icherzählers zu ihrem Höhepunkt, den er folgendermaßen formuliert: „Wenn ich nicht etwas tue oder sage, verliere ich meine Ehre und meinen Stolz auf im­mer und ewig.” (Maani 2016:7) Es stellt sich aber heraus, dass er nicht weiß, was zu tun oder zu sagen wäre und deswegen tut oder sagt er gar nichts. Sein freundlicher bundes­deutscher Kollege hat auf die Situation auch nur die eine Antwort. Er zieht sich zurück. Die Arena wird also widerstandslos geräumt und den Faschisten überlassen. Für den Icherzähler bedeutet der Vorfall viel mehr als nur den Verlust von Ehre und Stolz. Durch sein Nicht-Handeln und Nicht-Sprechen entmündigt er sich selbst als politisches Subjekt und stellt dadurch seine gesamte Integrität in Frage. Seine tiefste Verletzung mag darin bestehen, dass er in der Peripetie des Dramas schlechthin irrelevant war.

In eine andere Richtung verläuft der Subjektivierungsprozess im Umgang mit Frau­en. Die Exposition ist hier folgende: der Icherzähler steht während seines Krankenhaus­praktikums gegenüber einer rundlichen, blonden Krankenschwester mit dem Namen Beate Uhland am Bett eines todkranken, röchelnden Mannes, der wegen Trunksucht an hochgradiger Herzvergrößerung leidet. Auch hier lautet die umstandslose Eröffnungsfra­ge an den Icherzähler, woher er denn komme? Er hält gerade einen Filzstift in der Hand, mit dem er die Konturen des vergrößerten Herzens auf die Brust des im Sterben Liegen­den zeichnen sollte. Stattdessen zeichnet er auf dessen Brust die Kontouren Österreichs und malt darauf einen Punkt für Graz. Auf diese Weise erhalten wir eine sehr wirkungs­volle Metapher Österreichs, einen Icherzähler, der sich manisch in die Landkarte eines sterbenden Landes einzeichnen will, sowie eine Frau mit dem Namen Beate als Anspie­lung auf die gesuchte und erhoffte Glückseligkeit. Sie ist anscheinend so ungebildet und ignorant, dass sie nicht imstande ist, die gezeichneten Konturen ihrer eigenen Heimat zu erkennen, und nennt stattdessen diverse andere Länder. Wenn in der vorherigen Szene der faschistische Kollege des Icherzählers ein Skalpell als Waffe jemandem gegen das Gesicht richtet, dann ist es hier der Icherzähler, der den Filzstift „wie eine Waffe” (Maani 2016:17) gegen die blauen Augen der Krankenschwester richtet. Diese Konfrontation wird zum Anfang einer Beziehung, in der zuerst das bekannte Repertoire an populis­tischen Vorurteilen und auch schlechten Erfahrungen mit Persern durchgespielt wird. Der „romantische” Abend findet anschließend im Musikcafé Toter Engel statt. Die Be­ziehung ist ganz in das Umfeld von Krankheit und Krankhaftigkeit getaucht. Der Ich-Er­zähler, von vornherein gekränkt, sucht sich gerade eine Krankenschwester als Partnerin aus. Die Beziehung der beiden basiert auf gegenseitiger Besessenheit, einer unerklärli­chen Anziehungskraft, die auf dem Anderssein gründet; denn wie wir erfahren, begehren nämlich österreichische Frauen „Faschistinnen wie Nicht-Faschistinnen [...] männliche, schwarzhaarige Ausländische” (Maani 2016:13) heftig. Ebenso gründet sie aber auch auf einer noch umso heftigeren Abneigung und wird daher auch umgehend wieder beendet.

Das Thema der Krankhaftigkeit wird daraufhin ausgeweitet, indem das Auftreten ei­ner ganzen Reihe von psychosomatischen Krankheitssymptomen in Verbindung mit dem Icherzähler gebracht werden. Das „Persischsein” und das „Österreichische” scheinen organisch unvereinbar zu sein, das Österreichische kann das Persischsein nicht einver­leiben, und umso schwieriger zeigt sich die Situation des Icherzählers, der beides in sich trägt. Interessanterweise wird in der Erzählung niemals Österreich als Land oder über­haupt ein staatspolitisches Gebilde erwähnt, sondern immer nur das Österreichische als Eigenschaft. Im Raum des Miteinandersprechendseins begegnen sich auch niemals das Österreichischsein und das Persischsein auf Augenhöhe. Ihre irgendwie geartete Koexis­tenz wird demnach auch nicht durch Sprechen, Zuhören, Verstehen von ausgeprägten Subjekten geregelt.

Der Icherzähler verlässt schließlich seine befremdende Quasiheimat und beginnt so­zusagen seine Wanderjahre mit einer Schlussfolgerung: „Am Ende war ich überzeugt, mein Elend verdanke ich einzig und allein meiner Existenz im Österreichischen, umgeben von österreichischen Menschen, meinen Liebes­beziehungen zu österreichischen Frauen und dem Umstand, daß mich meine Eltern im Alter von zwölf Jahren ungefragt ins Österreichische Graz verbracht haben [...] So beschloß ich, das Österreichische zu verlassen und das Glück anderswo zu su­chen.“ (Maani 2016:22)

Im Schweizerischen Graubünden kommt schließlich das magische und wundersame Moment ins Spiel, das der Erzählung ihren Titel gegeben hat, nämlich der Heiligen­scheinorgasmus, bzw. das, was ein Freund Sama Maanis als „die Geburt der österrei­chischen Identität aus dem Geiste der Beschimpfung” (Maani: Mai 2017) bezeichnete. Der Icherzähler bekommt einen Tobsuchtsanfall, als er beinahe mit einem jugendlichen Schweizer Snowboardfahrer zusammenstößt und ruft ihm „im Deutsch der österreichi­schen Menschen etliches Böse und Gehässige” (Maani 2016:24) nach, was ihm seiner­seits von dem Schweizer „im Hochdeutsch der Deutsch-Schweizer” (Maani 2016:24) zurückgegeben wird. Dieser nennt ihn “einen Idioten aus Österreich, einen Krüppel, der nicht Skifahren könne und behauptet, alle Österreicher seien Faschisten, Onanisten und Kinderschänder. (Maani 2016:25) Was folgt, ist der ironische Höhepunkt der Erzäh­lung, denn der Icherzähler gerät in eine Art Verzückung, „es folgte eine außerordentliche, überwältigende Entladung, ein Ganzkörperorgasmus” (Maani 2016:25), ein transzen­dentales Erlebnis mit einer Aura, einem Heiligenschein dadurch, dass er als Österreicher beschimpft wurde. Die Glückseligkeit, in die er auf diese Weise versetzt wird, ist so groß, und der Wunsch, es nochmal zu erleben, so dringend, dass er fortan dem Erlebnis wie einem heiligen Gral manisch hinterherläuft.

Der Schmerz, nirgendwohin zu gehören, sein Weltschmerz, das Fehlen des Österrei­chischseins führt ihn immer weiter. Die Erzählung nimmt fortan immer phantastischere Züge an und wandert ab ins Reich des Unterbewussten und des Bizarren, wobei diese Merkmale durch parallel gesteigerte ironische Distanz zielgenau dazu führen, wo uns Sama Maani haben will. Das Österreichische, wie alle anderen aus dem Ethnischen ab­geleiteten Eigenschaften, die im Prinzip politische Kategorien sind, existiert im Reich der Vernunft gar nicht und bleibt für den Menschen, der nicht hineingeboren wurde, ein schicksalhaftes und auf rechte Weise nicht zu erlangendes Privileg, ein Heiligtum, ein Phänomen aus dem Bereich des Übersinnlichen, dem alle geborenen Österreicher hul­digen und welches diese jedem anderen aberkennen, ohne es selbst für sich erkannt zu haben. Sie benehmen sich allesamt in diesem Sinne als Gläubige, und das Österreichische ist ihre Religion. Der Icherzähler begibt sich dagegen in seiner narzisstischen Neurose auf einen Erkenntnisweg. Er will sozusagen Erkennender der Religion des Nationalen werden, um an ihr teilhaben zu können. Auf diesem Weg führt ihn die moderne Version einer Hexe in Form einer grünäugigen halb-Kind-halb-Frau-Hure aus dem französischen „Welschland”. In ihrem Zeitungsinserat steht: „Louise, Inländerin, 22, blond, schlank, Studentin der Politik, hübsch, mittelgroß, erfüllt jeden Wunsch, auch ausgefallene und bizarre.” (Maani 2016:37) Und gerade das Wort bizarr zieht den Icherzähler an, denn er weiß, es ist etwas Bizarres, sogar etwas Übersinnliches in dem Wunsch, das Österreichi­sche und den mit dem Österreichischen hermetisch verbundenen Heiligenscheinorgasmus erfahren zu wollen. Daher sucht er sie sofort auf. Ein paar hundert Jahren früher würde er sich in den Bereich der Alchemie begeben haben, um dort seinen Mephisto zu finden. Heute leitet ihn ironischerweise als Muse und Lehrerin durch die Unterwelt eine Hure, noch dazu Studentin der Politik. Die Erzählung nimmt hier noch groteskere und fantasti­schere Züge an. Wenn der Icherzähler bis jetzt in den Zustand des Heiligenscheinorgas­mus dadurch gelangt, dass er als Österreicher beschimpft wird, also passiv, erzählt ihm Louise von derselben Erfahrung, die für sie dadurch zustande kam, dass sie ihren Lieb­haber zuerst durch die anscheinend okkulten Kräfte ihrer Beschimpfung, hier also aktiv, regelrecht umbringt, um anschließend in einem nekrophilen sexuellen Akt mit seiner Leiche zur Erfahrung des „Orgasmus mit aureole” (Maani 2016:40) zu gelangen. Auch hier sind Bestandteile dieser extremen und tödlichen Beziehung Merkmale, die aus dem Bereich des Politischen und Kulturellen herrühren. Ausdrücklich hervorgehoben wird nämlich, dass Louises umgebrachter Liebhaber mit dem schönen deutschen Namen Franz mütterlicherseits afrikanischer Herkunft war. Er wird durchaus liebevoll beschrieben als ein Relikt vergangener Zeiten, ein etwas naiver und kindischer „musicien”, ein Künstler also, der im Zirkus mit einer afrikanischen Seiltänzerin flirtet, dadurch eine verhängnis­volle Eifersucht in Gang setzt und schließlich durch die Macht von Louises Beschimp­fung einfach eingeht. Das Fremde, Andersartige und dazu zählt auch das Künstlerische, wird durchaus geliebt, und zwar hier umso mehr, indem es zuerst zu Tode geschimpft und dann noch konsumiert wird. Darauf lässt sich jetzt der Icherzähler ein. Die Erzäh­lung erreicht ihren Umschlags- und Höhepunkt, als Sama Maani den Ausgang seiner fantastisch-grotesken Geschichte in die makabre Wohnung der Politik studierenden Hure Louise verlegt und noch weitere Elemente einsetzt.

Maßgeblich ist eine Reminiszenz des Icherzählers an seine einstige, erfolglose Psy­choanalyse bei einem steirischen Dr. Kinz, mit dem er seinen unzüchtigen Gedanken und abartigen Phantasien auf den Grund kommen wollte. Von solchen wurde er ge­plagt, seitdem ihm als Kind seine Mutter das Grimmsche Märchen „Hänsel und Gretel” vorgelesen hatte, es geht genauer um den Abschnitt, in dem vom Zuckerbrothaus ge­sprochen wird und darüber, dass die Hexe Kinder verschlingt. Die Verbindung zu He­xenmotiv wird dadurch auch direkt hergestellt. Im Gegensatz zu Hänsel und Gretel, die nicht wussten, was ihnen droht, wenn sie vom Zuckerbrot essen, ist dem Icherzähler klar, worauf er sich einlässt. Er wird ja direkt gefragt, ob er bereit sei zu sterben, um den Heiligenscheinorgasmus zu erreichen und dadurch implizit in den Besitz des Öster­reichischen zu gelangen. Außerdem ist Louises Wohnung im Gegensatz zum leckeren Haus der Hexe von Hänsel und Gretel voll von Essensresten, Abfällen und Verwesung. Sie ist also nicht nur unappetitlich, sondern vollkommen widerwärtig. Das literarische Zuckerbrothaus erwies sich als Falle, hinter der sich eine grausame Realität verbarg. In unserem Fall wird das Verwerfliche, Abartige und Bizarre erst gar nicht verborgen. Es stellt sich eher die Frage, ob der Icherzähler bereit ist, quasi durch Feuer und Wasser zu gehen um zur Lösung seiner Existenzfrage zu gelangen, sich ironischerweise als „würdig” zu erweisen. Die Gleichung lautet so: Solange er sich bemühte, anständig und tugendhaft zu leben, wurde er von seiner Umgebung als fremd wahrgenommen. Nun erst, wo er die Seiten wechselt und ins Abartige rutscht, liegt er auf dem richtigen Weg. Es folgt demgemäß auch ein Methodenwechsel. Das bis zum Äußersten wütende Be­schimpfen zur Erlangung des Heiligenscheinorgasmus, das bisher allein Wirkung zeigte, der männlich-aggressive Ansatz, wird gegen eine dem Milieu entsprechende Erotik und das süße Zureden der „Hexe” Louise eingetauscht. Es funktioniert aber anscheinend dadurch, dass der Icherzähler zum ersten Mal von jemandem erkannt wird in dem, was er wesentlich ist, ein Mann mit Eigenschaften sozusagen, und hier mit einer ganz beson­deren sogar: „Isch 'abe gleisch mir gedacht, du bist Autrichien. Du bist ein Autrichien typique…” (Maani 2016:50) und später “isch finde so süß die Autrichiens, alle sind so, wie du, süße… psychopathes …“ (Maani 2016:51) Das Fragen nach dem Österreichischen, bzw. der Versuch, die große Irritation, die das Österreichische verursacht und den Ich-Er­zähler auf seinen Bildungsweg treibt, wird hier von der Prostituierten und Politikstu­dentin Louise in der Rolle der Muse beantwortet. In der Fremde, von einer Fremden in äußerst befremdlichen, unheimlichen und ungemütlichen Umständen erst wird der Icherzähler als typischer ergo psychopatischer Österreicher erkannt und findet endlich sein Daheim. In einer weiteren ironischen Wendung lässt Sama Maani den Ich-Erzäh­ler zuerst zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die Erkenntnis nur durch einen sogenannten „Unzuchtsakt” zu gewinnen sei, bei dem er möglicherweise sterben werde. Den Trick vollführt letztendlich ein Kuss, wie in einem Märchen. Der Heiligenscheinorgasmus wird ausgelöst, der Icherzähler wird entzaubert und als österreichischen Psychopath ak­zeptiert. Ist aber dabei etwas gestorben?

Das zu lösende Rätsel ist in diesem Fall ein politisches: „Wie werde ich Österrei­cher? Wie kann ich mich integrieren, lautete die Frage?” Ironischerweise genügten aller gute Wille, aller Anstand nicht, weder Arbeit, noch das gesamte Wertesystem. Alles die­ses taugte nichts, verfehlte das Ziel. Solange man nur innerhalb seines Nationalraumes verweilt, kann man sich anscheinend nicht subjektivieren, die Selbsterkenntnis bleibt versperrt, man kann den Wald von lauter Bäumen nicht sehen.

Indem der Icherzähler seinen national-politischen Raum, der auch sein ethischer Raum ist, verlässt und aufhört, ein im Wesentlichen anständiger, ein züchtiger Mensch zu sein, wird er erst zum echten Österreicher. Er hat denjenigen vor-politischen Raum gefunden, der für ihn seinen Zweckt erfüllt. Es ist dies aber kaum ein Raum legitimer Versprachlichung; es handelt sich vielmehr um das genaue Gegenteil eines öffentlichen, bürgerlichen Raumes, eines Forums, in dem ein politisches Subjekt als Mensch seinen legitimen und anerkannten Platz finden würde. Im Übrigen ist dies aber ein Raum, auf den keine Moral anwendbar ist; alles, was dort existiert und Wirkung hervorbringt, ist zweckorientierter Wille, sozusagen Wille zum Heiligenscheinorgasmus. Der Icherzähler macht sich selbst zum Österreicher. Die Überbrückung der Kluft, die in seinem frühe­ren sozialen Leben unmöglich war und die ihm auch als verbotener Transfer zwischen Therapeut und Klient bei seiner Psychoanalyse verwehrt blieb, wird hier eigenmächtig durchgeführt. Mit Erfolg.

Und dann gibt es in diesem Pandämonium von Kuriositäten auch noch die persische Katze, Katzen gehören ja zur Ikonographie von Hexen. Auch die Katze heißt Louise, wie die Hure Louise, ist sozusagen deren Alter Ego. Mit ihr hat es etwas Magisches auf sich. Sie ist geheimnisvoll wie die Sphinx und wandert hin und her über die Schwelle von Dies- und Jenseits, wirkt aber auch als ein Requisit aus dem psychoanalytischen Repertoire. Sie stirbt immer wieder und steht dann wieder von den Toten auf. Zu ih­rer Auferstehung kommt es gerade durch den Heiligenscheinorgasmus. Mit der Geburt des Österreichischen im Icherzähler durch den Kuss der Hure/Hexe Louise scheint seine Gespaltenheit hinsichtlich des Persischen aus ihm zu verschwinden. Das Persische lebt quasi weiter in der domestizierten Form einer Katze, es wird zum Haustier.

Die Erzählung davon, wie man Österreicher wird, schließt Sama Maani folgender­maßen: „Ich habe auf Louises Anregung hin meinen Beruf als Nervenfacharzt aufgege­ben und betreibe zusammen mit ihr eine sogenannte Go-Go-Bar am sogenannten Wiener Gürtel.” (Maani 2016:52) Was der Icherzähler bei der Lösung seines Lebensproblems aufgibt, kündigte die Gestalt der Louise metaphorisch bereits an. Inwiefern war der Icherzähler gestorben? Was ist durch den scheinbar harmlosen Liebes- und Todeskuss gestorben? Es sind nicht nur der Beruf und die Ambitionen, sondern im Prinzip die gesamte persönliche Freiheit. Es erscheint als seine ganz persönliche Wahl, die er ei­genmächtig durchsetzt. Allerdings ist der Icherzähler an dieses Ziel aber nur gelangt, weil er eben dahin getrieben wurde, nicht aus freier Entscheidung. Das Momentum der Erzählung ist nicht Freiheit der Wahl, sondern Ausweglosigkeit, nicht Selbsterkennt­nis, sondern Erkanntwerden, das Bestimmtsein durch andere. Es handelt sich um Flucht vor dem größeren Übel und nicht um das Verfolgen einer eigenen Lebensvision. Alles geht nach dem Motto: „…das Lebensziel bestünde nicht in der Suche nach immer mehr Glück, sondern nach immer weniger Unglück.” (Maani 2016:52) Das klingt wie das Aufgeben der Hoffnung, sich jemals als freies (politisches) Subjekt etablieren zu kön­nen. Der Icherzähler landet praktisch in einem halbfreien Verhältnis mit der Hure Lou­ise. Hierfür ist er aber in die österreichische Gesellschaft „integriert” worden. Auch das ist natürlich nur scheinbar eine eigene Wahl. Er war doch bloß dem anscheinend einzig für ihn plausiblen Weg gefolgt, der vollkommenen Auslieferung seines Wesens an das Österreichische.

Und noch etwas ist interessant an dem Raum selbst, in dem die Erfüllung des Heili­genscheinorgasmus stattfindet. Es ist die höchst makabre und auch Ekel erregende Woh­nung der Hure Louise. Eigentlich erwartet man eine Art von heiligem Schrein, einen Raum eben, der dem Heiligenscheinorgasmus angemessen ist, oder zumindest, da es sich um einen erotisch aufgeladenen Raum handelt, etwas das dieses Zweck erfüllt. Die Be­schreibung der Wohnung schildert aber eine Art Mülldeponie, überall Essensreste in fes­ter oder flüssiger Form, allenthalben Verwesung und Plastikverpackung von Videos u.ä. Man sieht, hier wird reichlich konsumiert. In einem alten Märchen wäre man in der Höhle eines Drachen angelangt, der Jungfrauen verschlingt und Knochen von getöteten Helden herumliegen lässt. Hier ist es der Moloch des Konsums, personifiziert in der Form einer Prostituierten. Die Wörter Politik und Prostitution scheinen dabei wesentlich verbunden zu sein. Transzendenz existiert in der Welt dieser Erzählung nicht mehr. Hier regiert der Gott des Konsums und als Götze der Mythos des Nationalen, der jedoch unergründ­lich, unzugänglich zu sein scheint. Das Nationale hat keine fassbare Substanz. Es hät­te irgendwie nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten im Raum der zwischenmenschlichen Versprachlichung, also im politischen Raum des Miteinandersprechendseins entstehen sollen. Dabei bleibt verborgen, zu welchem guten Zweck dies passieren sollte. Es entsteht nichts Verbindendes daraus, kein gesellschaftlicher Konsens, nichts Positives überhaupt. In keiner Szene kommt es zu einem konstruktiven Dialog, zu Auseinandersetzung durch Argumente. Die Personen sprechen überhaupt nicht miteinander, eher gegeneinander. Sie befinden sich zwar im selben Raum, doch ist jede in den eigenen Nationalwahn einge­schlossen. Von einem Agon der Pluralität kann nicht gesprochen werden. Für ein kons­truktives Gegeneinander, in dem „‚thymotische Tugenden’ wie Empörung, Stolz, Zorn oder Tapferkeit” (https://derstandard.at/2000056794055/Von-der-entkoffeinierten-Sexualitaet-zur-entpolitisierten-Politik, Mai 2017), die Maani hervorhebt als (Maani: Mai 2017) „Tugenden, ohne die politisches Engagement, Kampf- und Opferbereitschaft nicht zu haben sind” (Maani: Mai 2017), fehlt vor allem zuerst der Respekt für den Gegner, der ein wesentliches Attribut des thymotischen Helden ist. Ohne Respekt für den Gegner gibt es dann auch keinen Re­spekt für sich selbst. Die Subjekte unserer Erzählung, vor allem natürlich der Icherzähler, erfüllen insofern auch nicht die Bedingungen für ein politisches Subjekt. Das Politische bleibt unrealisiert. Wenn solches schon nicht im öffentlichen Raum geschieht, so doch wenigstens im privaten, könnte man meinen. Doch wird auch dieser entheiligt; das Mit­einandersprechendsein wird ersetzt durch Befriedigung der Triebe, wobei das Triebhafte selbst reduziert wird auf das Ausgefallene, Bizarre. Um den Schein geht es, nicht um die Sache selbst, und dieser Schein, das Scheinbare, wird als heilig empfunden. Wir können sogar sagen, es geht überhaupt nur um die Nachahmung, Mimesis eines Orgasmus. Der Icherzähler und Louise verstehen sich nicht als Menschen, die im gemeinsamen (vorpo­litischen) Raum sinngebend das Leben versprachlichen. Sie verstehen sich vielmehr als Getriebene, Süchtige, als Beherrschte, nicht Herrscher des eigenen Lebens, die derselben Droge nachjagen. Das ist ihr gesellschaftlicher Konsens, obwohl sie auf dieser Grundlage anscheinend höchst erfolgreich die Go-Go-Bar betreiben. Auf der Grundlage dieser Re­duktion des Menschen auf das Narzistische, Triebhafte, Pathologische entsteht denn auch die nationale Zugehörigkeit, das Österreichische.

Der politische Aspekt der Subjektivität in literarischen Räumen bei Sama Maani zeigt sich als dysfunktional, die Besessenheit von der nationalen Identität als pathologi­scher Narzissmus, welcher die Persönlichkeit zerstört und den Menschen auf das Trieb­hafte reduziert. Dieser Zustand ist spezifisch dem Geist des Österreichischen gewidmet, im Allgemeinen jedoch auf die gesamte Renaissance des Nationalen in Europa anwend­bar. Ironisch dabei ist, dass dieses nicht einmal einen vernünftigen Antagonismus inner­halb Europas zustande bringt. Im neuen europäischen Antagonismus nationaler Identitä­ten wird es keine Helden geben. 

Matej Šetinc
Fakultät für Sozialwissenschaften,
Universität Ljubljana
Slowenien
matej.setinc@guest.arnes.si


BIBLIOGRAPHIE

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MAANI, Sama (2017) Von der entkoffeinierten Sexualität zur entpolitisierten Politik. Der Standard, Sama Maani bloggt. 2. Mai 2017. https://derstandard.at/2000056794055/ Von-der-entkoffeinierten-Sexualitaet-zur-entpolitisierten-Politik.
MAANI, Sama (2017) Der Heiligenscheinorgasmus: Wie Identitätspolitik den Geist tötet. Der Standard, Sama Maani bloggt. 23. Mai 2017. https://derstandard. at/2000058117680/Der-Heiligenscheinorgasmus-Wie-Identitaetspolitik-den- Geist-toetet.
MOUFFE, Chantal (2007) Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt a. M.
NEUHAUS, Stefan/Immanuel NOVER (2009) Das Politische in der Literatur der Ge­genwart. Berlin/Boston.
NOVER, Immanuel (2019) Wer darf sprechen? Stimme und Handlungsmacht in Ais­chylos' Die Schutzflehenden und Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen. S. Neu­haus und I. Nover (Hg.), Das Politische in der Literatur der Gegenwart. Berlin/ Boston.
SOLMAZ, Kahraman (2016) Das Politische bei Arendt. Zeitschrift für politisches Den­ken, Bd. 8, Nr. 1, 166–186. http://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/ view/

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