Dienstag, 4. Februar 2020

„Exekution ist keine Kunst!“ (3)


Bildergebnis für Adorno"
Theodor W. Adorno
Paradoxien des Glücks 

Beide Ansätze (der im Rückblick reformulierte Freudsche und der Pfallersche) verstehen Sublimierung nicht (bloß) als Verzicht auf Lust, sondern im Gegenteil, (auch)15 als eine Bewegung, die, von einer verfehlten Lust ausgehend, diese überhaupt erst ermöglicht.

Bei genauerem Hinsehen scheinen die Dinge aber komplizierter zu liegen. Unlust, so unsere Alltagserfahrung, ist nicht immer das Ergebnis einer – etwa via Ekel – verfehlten Lust. Auch und gerade die erfüllte Lust kann jene Unlust erzeugen, die wir Langeweile oder Überdruss nennen. Goethes meist falsch zitiertes Gedicht

Alles in der Welt läßt sich ertragen
Nur nicht eine Reihe von schönen Tagen

mag uns, wie Freud anmerkt16, übertrieben erscheinen. Und angesichts „realerer“ Formen des  Leidens auch zynisch. Dennoch aber verstehen auch jene von uns, die sich beim besten Willen nicht daran erinnern können, je „eine Reihe von schönen Tagen“ erlebt zu haben, worauf Goethe hinaus will.

„[M]an möchte sagen“, meint Freud in Unbehagen in der Kultur, „die Absicht, daß der Mensch ‚glücklich’ sei, ist im Plan der ‚Schöpfung’ nicht vorhanden. Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen. Wir sind so eingerichtet, daß wir nur den Kontrast genießen können, den Zustand nur sehr wenig. Somit sind unsere Glücksmöglichkeiten schon durch unsere Konstitution beschränkt. Weit weniger Schwierigkeiten hat es, Unglück zu erfahren.“17 

Diese „Beschränkung unserer Glücksmöglichkeiten durch unsere Konstitution“, die dazu führen soll, dass wir nur „den Kontrast zu genießen“ vermögen, nicht den Zustand, ist allerdings auch ein Entstehungsgrund von Ekel.18 So dass die eben getroffene Unterscheidung zwischen der aus dem Ekel resultierenden Unlust, auf der einen, und der Unlust als Resultat von einem Zuviel an Lust, auf der anderen Seite, zumindest partiell, hinfällig wird. Auch dem Ekel mag ein Zuviel an Lust an einer „Reihe von schönen Tagen“ vorausgegangen sein. Ekel wäre dann nicht immer bloß ein Hindernis auf dem Wege zur Lust, sondern (mitunter auch) Symptom ihrer Übererfüllung. Eine Steigerungsform von Langeweile und Überdruss.

Weiter oben hatten wir an der Grundthese der Freudschen Kulturtheorie, wonach der Kultur – weil sie unsere (Trieb-)Natur unterdrücke – die Rolle der lustfeindlichen Spielverderberin zukommt, Zweifel angedeutet. Diese können wir nun konkretisieren und vertiefen: Kann es sein, dass unsere eigene „Natur“ anhaltende Lust, also Glück, prinzipiell nicht zulässt? Dass sich die Bedingungen der Möglichkeit von Glück, wie Freud selbst anmerkt, in unserer Konstitution nicht vorfinden lassen? Dass es also nicht (immer) die Kultur ist, die Lust unterdrückt und Glück verhindert, sondern (vielleicht häufiger noch) unsere Natur?

Vor dem Hintergrund der Pfallerschen Neuformulierung des Sublimierungsbegriffs ergibt die Berücksichtigung unserer mangelhaften Glücksfähigkeit eine Neuformulierung der Kulturtheorie der Psychoanalyse: Weit davon entfernt unsere – in ihrer Genussfähigkeit ohnehin schmerzlich eingeschränkte – Natur noch mehr beschränken zu wollen, kommt der Kultur in dieser Perspektive nicht (bloß) die Rolle der Spaßverderberin zu. Sondern (mitunter auch) die einer Entwicklungshelferin  und Glückspädagogin, die unsere beschränkten Glücksmöglichkeiten zu entschränken versucht.

Zum Beispiel durch Kunst. 

Paradoxien des Kunstglücks 

Der Frage, ob und wie uns Kunst Glück und Genuss bereiten kann – zwei Begriffe die Adorno mehrfach in einem Atemzug nennt – geht er unter anderem in seiner unvollendet gebliebenen Ästhetischen Theorie und in den 1958/59 gehaltenen Vorlesungen zur Ästhetik nach. Die Positionen, die er dabei bezieht, wirken zunächst widersprüchlich.

So scheint er, wenn er etwa meint, kein Gemälde sei „für den Beschauer, keine Symphonie für den Zuhörer, selbst kein Drama für das Publikum da, sondern [...] um seiner selbst willen“19 einem strikten L’art pour l’art das Wort zu reden und Kunst einzig „im Hinblick auf das Absolute, und nicht etwa in einer [...] Beziehung auf die Menschen“20 zu denken. Eine solche absolute, mit dem Rezipienten in keiner Beziehung stehende Kunst kann natürlich weder Genuss bereiten noch Glück: „[D]ie Kunst, die ja so vielfach mit dem Hedonismus in Zusammenhang gebracht wird und die gerade von den Puritanern aller Religionen [...] immer um ihrer sogenannten Genußsucht willen verdächtigt worden ist, [ist] im Sinne dessen, was wir gesagt haben, etwas Antihedonistisches [...].“21 heißt es denn auch in der selben Vorlesungssitzung. Und in der Ästhetischen Theorie bezichtigt Adorno „den Bürger“, der „die Kunst üppig und das Leben asketisch“ wünsche, des „Schwachsinns“, nicht ohne hinzuzufügen: „[U]mgekehrt wäre es besser.“22 

Dass es aber absurd wäre, jegliche Beziehung zwischen Kunstwerken und ihren Rezipienten, also die Existenz von Kunstrezeption zu leugnen, wußte Adorno natürlich. „[E]s würde gegen den einfachsten Menschenverstand verstoßen“, sagt er in der selben Sitzung, wenn man „Kunstwerke als nur Gott gewidmet und deshalb als ein Absolutes vergötzen würde.“23 Die Rede vom nur „um seiner selbst willen“ existierenden Kunstwerk, ist denn auch im Kontext der Kritik Adornos am ästhetischen Subjektivismus zu lesen, der die ästhetische Theorietradition seit Kant dominiert und in seinen psychologischen Varianten im 19. und 20. Jahrhundert Kunstwerke auf reine Stimuli reduziert hat, vergleichbar „irgendeinem aufflammenden Licht in einem psychologischen Laboratorium“.24 Ohne den – trivialen – Umstand zu berücksichtigen, dass subjektive Reaktionen auf Kunstwerke häufig, wenn nicht in der Regel, von Momenten bestimmt werden, die mit dem Kunstwerk als solchem herzlich wenig zu tun haben. „Wenn man im Ernst versucht, wie es vielfach in Amerika geschieht, etwa aus Reaktionen von Menschen eine Ästhetik aufzubauen, eine Werthierarchie an diese Reaktionen anzuschließen, so kommt man zu [...] einer Art von Majoritätsvotum, das dann in einen [...] heftigen Widerspruch zu der Sache tritt.“25 
Dieser Ästhetik des Geschmacks setzt Adorno die „objektive, am Wesen des Kunstwerks und seiner eigenen Gesetzlichkeit, seiner eigenen Problematik orientierte Betrachtung [Hervorhebung von mir]“26 entgegen, übrigens auch ein zentrales Motiv der ästhetischen Theorie Hegels.

Hier konfrontiert uns Adorno nun aber mit einer faszinierenden Paradoxie: Erst wenn das Subjekt erkennt, dass „kein Gemälde [für den] Beschauer, keine Symphonie für den Zuhörer, [...] kein Drama für das Publikum da“ ist, das Kunstwerk also freigibt, für sich nichts von ihm erwartet – dann erst kann ihm das Kunstwerk „etwas  geben“. Dieser – in der Anerkennung der Autonomie des Kunstwerks implizierte – Beuteverzicht schließt auch den Verzicht auf Erkenntnisgewinn ein, auf den Anspruch, das Kunstwerk im herkömmlichen Sinn verstehen zu wollen. „Je weniger man Kunst ‚versteht’, das heißt: je weniger man sie auf irgendwelche abstrakten, dahinterstehenden, vermeintlich von ihr vermittelten Allgemeinbegriffe bringt, je mehr man sich ihr vielmehr im Vollzug überläßt, um so besser versteht man sie dann, vollzieht also ihren Sinnzusammenhang, und das heißt eben dem Kunstwerk folgen, nicht aber erraten, was es meint [Hervorhebung von mir].“

Und paradoxerweise ist es gerade der Verzicht auf den Anspruch, „vom Kunstwerk etwas haben zu wollen“ – und sei es bloß auf der intellektuellen Ebene des Verstehens –, der den Zugang zum Kunstwerk eröffnet: „[D]ie künstlerische Erfahrung [ist] ein Mitvollzug oder ein Drinsein [...] Kunstwerke [...] haben ein Moment des Enigmatischen, dem man zunächst einmal nur dadurch gerecht wird, daß man nicht fragt: Was bedeutet das alles?,  sondern daß man in die Sache selber sich [eigentlich] hineinbegibt.“

Vergessen wir aber über der Frage des Verstehens nicht das Glück. Die Frage, ob und wie Kunst Glück schenken kann.

Die Dialektik von Verzichten und Gewinnen (erst der Verzicht auf den Anspruch, vom Kunstwerk „etwas haben zu wollen“, ermöglicht die genuine ästhetische Erfahrung desselben) zeigt, wie sich der subjektive Zugang zum Kunstwerk, trotz seines, nach Adorno, autonomen, „objektiven“ Charakters, denken lässt. Ein Zugang, den das Alltagsbewusstsein naiverweise als gegeben voraussetzt, und ohne den so etwas wie Kunstglück natürlich nicht denkbar wäre.

Die Begriffe, die er oben verwendet, um diese spezifische ästhetische Erfahrung zu beschreiben („Sich-Hineinbegeben“, „Drinsein“, „Sich-im-Vollzug-Überlassen“), beziehen sich alle auf die Einstellung des Subjekts dem Kunstwerk gegenüber. Auf jene „Art von aktiver Passivität“, die Adorno zufolge das „Verhalten“ des Subjekts „zum Kunstwerk“ charakterisieren – und die Bedingung für eine geglückte – und beglückende – ästhetische Erfahrung bilden soll.

Folgen wir der näheren Bestimmung dieser beglückenden Erfahrung, stoßen wir auf ein Moment, das wir als Verhalten des Kunstwerks dem Subjekt gegenüber bezeichnen könnten – und begegnen der zweiten Paradoxie des Kunstglücks in der Ästhetik Adornos. 

wird fortgesetzt 


15 auch bezieht sich hier auf den Ansatz Freuds. 

16 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt am Main 2000, S. 43 

17 Ebd. 

18 Betonung auf ein, weil dem Ekel – neben jenem Zuviel an Lust – auch andere Faktoren zugrunde liegen mögen, etwa die anatomische Nähe (beziehungsweise, im Falle des Penis, die Identität) der Genital- und der Ausscheidungsorgane, an die Freud in der oben zitierten Passage der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie („ist diese Entwicklung eine organisch bedingte“, siehe Anm. 13) gedacht haben mag. 

19 Theodor W. Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59), Frankfurt am Main 2017, S. 191 

20 Ebd. 

21 Ebd., S.197 

22 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 2016, S.27 

23 Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59), S. 192 

24 Ebd., S. 280 

25 Ebd., S. 283 

26 Ebd., S. 263 

27 Ebd., S.190

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