Warum könne ich das gerade bei den Juden nicht?
- Das soll ich Dir sagen? Du bist der Analytiker.
- Und Du bist Schriftsteller.
U. begann mir nun - ähnlich minutiös wie zuvor den Goldstone-Bericht - meine eigene Lebensgeschichte auseinanderzulegen. Daß ich mit zwölf von Teheran nach Graz übersiedeln mußte, sei „der sprichwörtliche Suppentopf, den man als Kind auf den Kopf gesetzt kriegt.“ Und das ganze Leben rinnt einem die Suppe hinunter.
Ich nehme den Schriftsteller zurück - wollte ich sagen. Und: Du solltest Analytiker werden. Aber ich wollte U. nicht unterbrechen. Er war zu sehr in Fahrt: „Graz, Stadt der Volkserhebung. Wo sie die Traditionen des Nationalsozialismus am sorgsamsten pflegen. Diese Traditionspflege hast Du als Heranwachsender in allen Facetten kennen und hassen gelernt. Daher Deine, entschuldige, Semitophilie.“
Warum U. sich entschuldigte, konnte ich mir vorstellen. Semitophile, hatte ich einmal gelesen, seien Antisemiten - unter umgekehrten Vorzeichen. Oder ich hatte es mir gedacht. U. spürte jedenfalls, daß mich auch seine Graz-Thesen nicht überzeugten - und änderte seinen Erklärungsansatz. Von biographisch auf transgenerational.
„Du bist Atheist. Aber Deine Eltern und Vorfahren sind, bzw. waren, Baha’i. Und die Baha’i-Religion wurde seit ihrer Entstehung im Iran des 19. Jahrhunderts unterdrückt und verfolgt. Seit der Machtübernahme des Islams hat diese Verfolgung eine neue Dimension, und ist heute mit der Verfolgung der Juden vor der Phase des Holocaust zu vergleichen. Dazu kommt: Die islamischen Propagandisten bezichtigen die Baha’i, deren heilige Stätten sich in Israel befinden, Spione der Zionisten zu sein. Du bist weder Baha’i noch Jude - aber daß Du Dich mit „den Juden“ solidarisieren und identifizieren mußt, liegt auf der Hand.“
U. nervte - wieder einmal - mit seiner Schulmeisterei. Ich widersprach ihm aber nicht.
wird fortgesetzt
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