Die Skripten zur Vorbereitung der ideologischen Prüfung, die man auf den Trottoirs rund um die Universität erwerben konnte, kannte ich alle auswendig. Sie enthielten Fragen wie:
Daß die Welt so gut funktioniert, ist ein Rätsel, das wir lösen, indem wir an Gott, den Schöpfer, glauben. Müßte aber Gott nicht noch besser funktionieren als die Schöpfung? So daß das Rätsel, da wir an Gott, den Schöpfer, glauben nun noch größer ist?
oder:
Wenn Gott existiert, warum funktioniert die Welt dann so schlecht?
und andere Fragen vorwiegend metaphysischer Art. Sie kamen mir allesamt wie Fangfragen vor. Glaubenspraktische Themen, wie die Theorie und die Praxis des Gebets, fanden in jenen Skripten jedoch keine Erwähnung.
Daß die AnhängerInnen des Islams beten, wußte ich vom Vater. Nicht daß er gebetet hätte. Zwar war er als Anhänger des Islams geboren, aber schon seine Eltern würde man - wenn es so etwas wie Taufe bzw. den Taufschein bei den AnhängerInnen des Islams geben würde - als Taufschein-AnhängerInnen des Islams bezeichnet haben. Was natürlich auch für den Vater und mich galt.
Nein, nicht daß Vater gebetet hätte. 1973 nahm er jedoch, zusammen mit besagtem Ashkan Namwar, an einem Architekturwettbewerb teil. Der Auftrag lautete: Einen Pavillon der Teheraner Weltausstellung 1974 als modernes
Teheranisch-islamisches Gebetshaus
zu gestalten. Vater und Namwar reichten einen Entwurf ein und gewannen.
Es handelte sich, soweit ich mich erinnere, um veränderbare Räume bzw. um eine Fassade, die sich mehrere Male am Tag automatisch veränderte. Die verschiedenen Fassadenvarianten waren verschiedenen Positionen beim Gebet nachempfunden:
Position 1: Stehend, die Hände erhoben, wie nach dem Kommando „Hände hoch!“, bloß daß der Betende die Hände näher an den Ohren hält.
Position 2: Vornübergebeugt, die Hände auf den Knien ruhend.
Position 3: Am Boden. Stirn, Nase, Handflächen, Knie, Zehenspitzen berühren den Boden.
Um den Besuchern der Weltausstellung einen Eindruck vom Teheranisch-islamischen Gebet zu vermitteln, verrichteten mehrere im Pavillon befindliche Betende - durchwegs Studentinnen der Fakultät für Architektur und Landschaft der Universität Teheran - mehrmals am Tag das Teheranisch-islamische Gebet.
Genau genommen handelte es sich aber nicht um das Teheranisch-islamische Gebet, sondern statt bloß die schon vorhandenen Teheranisch-islamischen Gebetshaltungen präsentieren zu lassen, hatte man Positionen des Teheranisch-islamischen Gebets und Positionen des Yogas zu einem
Teheranisch-islamischen Gebetsyoga
synthetisiert.
So folgte zum Beispiel, wenn ich mich richtig erinnere, die Pyramide (Parsvottonasana) unmittelbar der Position
2 (vornübergebeugt, die Hände auf den Knien ruhend). Oder der Skorpion (Vrischikasana) der Position 3 (Stirn, Nase,
Handflächen, Knie, Zehenspitzen berühren den Boden).
Und statt den traditionellen Gebetsformeln des Teheranisch-islamischen Gebets ertönten zu den jeweiligen Positionen passende Passagen populärer Teheraner Popsongs.
wird fortgesetzt
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