Dienstag, 1. Juli 2014

Warum uns Psychotherapie nicht weiterhilft - Plädoyer für Psychoanalyse (10)



„Unser Lebenslauf wird aber nicht von uns allein verfasst Er trägt immer auch die Schriftzüge unserer Eltern, Geschwistern, Vorfahren - die sich ihm aber nicht bloß als einzelne Charaktere einschreiben, sondern auch als Repräsentanten der Gesellschaft. 
Einer Gesellschaft, die uns heute - mehr noch als das Funktionieren - die Identifikation mit ihren Anforderungen gebietet. Anforderungen, die auch in sämtlichen anderen Bereichen - Familie, Partnerschaft, Sexualität, Freizeit - den (Leistungs)anforderungen der Arbeit nachempfunden zu sein scheinen.

Unsere - gesamte - Lebenszeit vor der Arbeit wird zu einer einzigen Vorbereitung auf die Arbeit - während die Freizeit, unsere Lebenszeit neben der Arbeit, der Wiederherstellung jener Arbeitskraft dient, die wir sind.

Vor diesem Hintergrund sollten wir unser Augenmerk nicht so sehr auf die Übertragung von der Familie auf den Arbeitsplatz richten (die Übertragung der Vater-Beziehung der Analysandin auf den neuen oder alten Chef), sondern, umgkehrt, auf die Familie als eine Sphäre, die uns auf die Arbeit vorbereitet.

Die Familie dient heute ja nicht bloß der Reproduktion von Arbeitskraft, sondern auch deren Produktion. Produktion von Arbeitskraft aber nicht nur im Sinne der Fortpflanzung, und der Erziehung von pflichtbewußten Arbeitskräften. Die Familie produziert heute Arbeitskräfte, die sich mit den Anforderungen der Gesellschaft – die wiederum den Leistungsanforderungen der Arbeit nachempfunden sind - identifizieren. Und den Fall der Analysandin halte ich in dieser Hinsicht für paradigmatisch.

Wo Befehl war, soll Wunsch werden - diese Formel bezeichnet ein Problem unserer Zeit, aus dem sich das Problem, das unsere Analysandin mit der Zeit hat, ergeben haben mag.

Das Zeitproblem unserer Analysandin tritt ja überall dort auf, wo ein Kurzschluß zwischen Wunsch und Befehl stattfindet. Ob es der Befehl des Vaters war, daß sie Klarinette lernen sollte, oder ihr eigener Wunsch, mit dem sie dann nachträglich auch noch in Gestalt eines väterlichen Befehls konfrontiert gewesen sein mag – wissen wir nicht. Es scheint jedenfalls zu einer Verschränkung von Wunsch und Befehl gekommen zu sein, aus der dann jene Unpünktlichkeit im Klarinetten-Unterricht resultiert haben muß, die zu ihrer Pünktlichkeit in der Schule in krassem Kontrast stand.“

Die Schule, hat der Analytiker am Beginn der Gruppensitzung berichtet, habe die Analysandin mäßig interessiert - „nicht gerade leidenschaftlich“.

„In der Schule“, sagt die Theoretikerin, „gab es genügend Distanz zwischen den ‚Befehlen’, also den schulischen Anforderungen, und den Wünschen der Analysandin. Ihr Begehren blieb vom Unterricht unberührt - sie konnte funktionieren. Auf den Klarinettenunterricht scheint ihr Unbewußtes hingegen mit einem radikalen Verweigerungsimpuls reagiert zu haben. Als wäre sie am liebsten gar nicht hingegangen. Vor diesem Hintergrund erscheint ihre Unpünktlichkeit als Kompromiß zwischen Wunsch und Wunsch: Zwischen dem Wunsch, sich dem Befehl des Vaters zu unterwerfen, und dem - anderen - Wunsch, diese Unterwerfung zu sabotieren.

Die Situation unter dem neuen Chef ähnelt dem Klarinettenunterricht. Allerdings scheint sich hier der Befehl dem Wunsch untergeordnet zu haben – und nicht umgekehrt.“

Unter dem neuen Chef - auch das hat der Analytiker zu Beginn der Gruppensitzung berichtet - hat die Analysandin, was sie schon immer gewünscht hatte: Die Möglichkeit bei der Planung und Durchführung von Projekten ihre eigene Kreativität einzubringen. 

Die Verwirklichung dieses ihres Wunsches ereignet sich aber nicht im luftleeren Raum. Sie ist verbunden mit dem „Befehl des neuen Chefs, und eingebunden in den Strukturen eines Unternehmens, das auch noch ganz andere, den Wünschen der Analysandin unter Umständen sogar widersprechende Ziele verfolgt, und die wir getrost - und ganz unabhängig vom nicht-autoritären Führungsstil des neuen Chefs - als Befehlsstrukturen bezeichnen können.

Ob sich der Befehl dem Wunsch oder der Wunsch dem Befehl unterordnet, scheint also keine Rolle zu spielen. Offenbar wird der Verweigerungsimpuls immer dort ausgelöst - und mit ihm das Zeitproblem -, wo Wunsch und Befehl aneinandergeraten. Wo die Distanz zwischen dem Befehl ‚dort draußen’ und dem Wunsch ‚da drinnen’ nicht mehr existiert.

Was für die Gegensatzpaare: Schulunterricht-Klarinettenunterricht und alter Chef-neuer Chef gilt, gilt analog für das Auftreten des Zeitproblems in der psychoanalytischen und dessen Nicht-Auftreten in der psychiatrischen Behandlung.

Im Fall des Zuspätkommens in der Analyse gibt es aber eine zusätzliche Dimension. Wir wissen vom Wunsch der Patientin, sich in Analyse zu begeben - wo  ist hier aber der Befehl? Das Auftreten des Zeitproblems in der Analyse scheint darauf zu verweisen, daß jeder Wunsch, sobald er Wirklichkeit wird, mit den Strukturen der Wirklichkeit in Kontakt kommt, den Verweigerungsimpuls und das Zeitproblem auslöst.

Das trifft auch auf den sogenannten Kreativsex zu. Beim Kreativsex scheint sie zwar kein Zeitproblem zu haben ... “

„Da muß ich widersprechen“, sagt der Lösungsorientierte, „die Analysandin hat  beim Kreativsex ein massives Zeitproblem: Sie kommt nicht unpünktlich - sie kommt überhaupt nicht.“

wird fortgesetzt

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