Während das Gesetz bei Paulus die Lust - indem es sie
verbietet - auf indirekte Weise
ermöglicht, zielt das Gesetz im schiitischen Islam auf die direkte Produktion sexueller Lust.
Mortezai mußte allerdings monatelang suchen, bevor sie Menschen
fand, die bereit waren, vor der Kamera über ihre Erfahrungen als
„Zeit-Eheleute“ zu sprechen. Wie ein Geistlicher in einer Szene des Films sagt,
wird die Institution der Zeitehe von „der Gesellschaft“ – wörtlich - als
anstößig („ghabih“) empfunden - und abgelehnt.
In ihrem Bemühen, das Sexuelle zu legitimieren, und ihm das
Anstößige zu nehmen, kommt hier die Religion also selbst in den Geruch des Anstößigen.
Tatsächlich zieht es ein Großteil der unverheirateten Iranerinnen
und Iraner offenbar vor, auf die legale und unbürokratische Befriedigung ihrer
Lust via Zeitehe zu verzichten - um ihre Sexualität abseits des (religiösen)
Gesetzes zu leben. Etwa im Rahmen von nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften - im
Iran „weiße Ehen“ genannt – deren zunehmende Verbreitung in den offiziellen Medien des Landes zulezt intensiv diskutiert wurde.
All diese Befunde scheinen darauf hinzuweisen, daß das
sexuelle Empfinden und das sexuelle Verhalten (weiter Teile) der iranischen
Gesellschaft ähnlich „strukturiert“ sind wie die zeitgenössische Sexualität in westlichen
Gesellschaften. Daß wir es - hier wie dort – mit individualisierten und
pluralisierten sexuellen Beziehungen zu tun haben, die – wie der
Soziologe Sven Lewandowski 1
feststellt - keinen traditionellen Vorgaben mehr folgen, so daß sie ihre
Legitimation aus sich selbst heraus beziehen - und um ihrer selbst willen
existieren. Sie stehen (so Lewandowski in Anlehnung an Anthony Giddens2) unter dem Paradigma der „demokratisch verfassten Intimität“: Sexuelle
Praktiken und Interaktionen werden unter gleichberechtigten Partnern immer
wieder aufs Neue ausverhandelt – mit dem Ziel der „Produktion“ bzw. der Maximierung sexueller Lust. Wie diese Lust erzeugt wird, ist, so
Lewandowski, sekundär. Im Iran – wie im Westen - ist die zeitgenössische Sexualmoral demnach hedonistisch.
Aber halt!
Wenn die in der iranischen Gesellschaft vorherrschende Sexualmoral hedonistisch ist, sich also in allererster
Linie an der Lust orientiert – warum machen sich dann junge Iranerinnern und
Iraner das Leben so schwer? Warum machen sie nicht einfach von der bequemen und legalen Möglichkeit Gebrauch, diese ihre Lust
im Rahmen der - von Staat und Religion geradezu verordneten - Zeitehe auszuleben?
Warum entscheiden sie sich stattdessen für diverse Formen vor- und
außerehelicher Sexualität - und nehmen dabei das Riskio drakonischer, archaischer
Strafen in Kauf?
„Warum“ so
ein besorgter online-Kommentar im Diskussionsforum der Website der - regierungsnahen
- iranischen Nachrichtenagentur Fars News Agency,
„verbieten
wir uns selbst, was uns Gott erlaubt hat?“
wird fortgesetzt
(1) Sven Lewandowski, Diesseits des
Lustprinzips – über den Wandel des Sexuellen in der modernen Gesellschaft
http://www.sws-rundschau.at/archiv/SWS_2008_3_lewandowski-artikel.pdf
(2) Anthony Giddens, Wandel der Intimität.
Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1992
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