Eines haben die von Watson angeschuldigten
Liebestöter, die Identifizierung mit der Arbeit und das Bedürfnis nach
„sexueller Autonomie“, gemeinsam: beide sind in hohem Maße narzißtisch
motiviert.
Wir sind, was den Umgang mit Sexualität und mit
Arbeit betrifft, zu Beginn des 21. Jahrhunderts also keineswegs, von „Erotik“
bestimmt, wie Sloterdijk glaubt, nicht jedenfalls von einer Erotik, die mit
real existierenden Objekten zu tun hätte, und die das Subjekt nötigen würde, über
die Grenzen seiner selbst hinauszugehen. Schuld am Schwund „thymotischer
Tugenden“ ist, so gesehen, nicht die
Dominanz des erotischen Pols, sondern – im Gegenteil – des narzißtisch-asketischen.
Daß asketisch-narzißtische Ideale zum Schwund
thymotischer – und somit politischer - Tugenden geführt haben, und nicht
„erotische“, zeigt sich deutlich an der tendenziellen Akzeptanz, mit der europäische
Gesellschaften seit Jahrzehnten auf den Prozeß der schleichenden Rücknahme
von Sozialleistungen reagieren – und hat wesentlich dazu beigetragen, daß uns Politik
heute fast ausschließlich als Nicht-Politik des bloßen Verwaltens
begegnet.
Es leuchtet ein, daß asketische Ideale auf Seiten
der Unterprivilegierten wesentlich zur „Immunisierung der Interessen von
privilegierten Gruppen“1) beitragen können – ein Zusammenhang auf
den Max Horkheimer in seinem Aufsatz Egoismus
und Freiheitsbewegung2) hinweist. Heute scheinen aber nicht bloß
gewöhnliche Subjekte, sondern häufig auch politische Eliten von asketischen
Idealen durchdrungen. Als würden - im Widerspruch zum Befund von Marx, wonach „die Gedanken
der herrschenden Klasse [...] in
jeder Epoche die herrschenden Gedanken [Hervorhebung von mir]“3) seien
- heute, umgekehrt, die Gedanken der Beherrschten
die der Herrschenden beherrschen.
„In dreiundvierzig Jahren als Wirtschaftsforscher“,
schrieb Stephan Schulmeister im Juli 2015 im profil „habe ich noch nie ein solches Konzentrat an blanken Lügen
wahrgenommen“4). Schulmeister bezieht sich hier auf Berichte über
die Verhandlungen der von der linksgerichteten Syriza dominierten griechischen Regierung
mit EU-Kommission, EZB und IWF über ein zweites Hilfspaket in Zusammenhang mit der
griechischen Staatsschuldenkrise - und denkt offenbar an Behauptungen wie:
- Der griechischen Regierung wurde seitens der EU-Verhandler
ein ‚großzügiges Angebot’ gemacht.
oder:
- Die griechische Regierung hat sich in den
Verhandlungen nicht bewegt (das genaue Gegenteil war der Fall: die griechische
Regierung, die mit dem Anspruch angetreten war, die aufgezwungene Sparpolitik -
mit ihren desaströsen Folgen für die griechische Wirtschaft - zu beenden, hatte
sich ständig auf die Positionen der europäischen Institutionen zubewegt. Zuletzt
war sie zur beinahe vollständigen Kapitulation bereit, während sich die
Institutionen praktisch überhaupt nicht bewegt hatten. Nachdem auch diese
Beinahe-Kapitualtion von den Gläubigern abgelehnt worden war, sah sich die
griechische Seite gezwungen, die Bevölkerung über das - von den Institutionen
vorgeschlagene - Sparprogramm zu befragen).
oder:
- Die griechische Regierung hat keine Konzepte
vorgelegt.
oder:
- Das Geld deutscher/österreichischer Steuerzahler
würde dazu verwendet, um der griechischen Wirtschaft/der griechischen
Bevölkerung zu helfen.
und ähnliches mehr.
Die (An)klage Schulmeisters dürfte sich aber vorwiegend
auf die Berichterstattung im deutschen Sprachraum bezogen haben. In
US-amerikanischen Medien etwa - und auch bei zahlreichen
US-amerikanischen Wirtschaftsforschern - hatten die Positionen der europäischen
Verhandler, allem voran Deutschlands, für Verwunderung und Verwirrung gesorgt.
„Die meisten [US-]amerikanischen Fachleute“, so der Journalist Harald Schumann
vom Tagesspiegel, betrachten die Position insbesondere der Deutschen inzwischen nur noch [...] als Folklore. Für die
ist diese deutsche Austeritätspolitik so etwas ähnliches wie Lederhosen und
Weizenbier“,5)
wird
fortgesetzt
1) Zvi Rosen, Max
Horkheimer, München 1995, S. 105
2) Max Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung. In: ders., Gesammelte
Schriften Bd 4, Frankfurt am Main 2009, S 9 - 88
3) Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. In: ders., MEW Bd 3,
S. 46
4) Stephan Schulmeister, Der Weg in die Depression, profil
vom 04. Juli 2015
5) https://www.youtube.com/watch?v=mi8RmbPAX6s
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen