Anders als im Fall der neuen Sexualitätsdiskurse
scheint es aber im Fall der Urlaubsverweigerungen nicht um Objekte zu gehen, die
den Subjekten verloren gehen, und deren Verlust sie - dann nachträglich
- durch Identifizierung zu verarbeiten suchen. Die Subjekte scheinen hier freiwillig, und um eines höheren Gutes willen, auf das Objekt „Freizeit“ zu
verzichten. So als seien sie von asketischen Idealen durchdrungen.
*
Wir können Askese
in einer ersten Annäherung als eine – mehr oder weniger bewußte - Haltung des Verzichts
auf „weltliche“ Genüsse bestimmen - in der Sprache der Psychoanalyse als Desinteresse an den Objekten der Außenwelt.
„Desinteresse an den Objekten der Außenwelt“ ist aber nichts anderes als eine Definition
des Narzißmus, den Freud in Triebe und
Triebschicksale als „eine psychische Ursituation“ beschreibt, in welcher „die Außenwelt nicht mit Interesse [...] besetzt und für die Befriedigung
gleichgültig“1) [Hervorhebungen von mir] ist (wohingegen „das
Ich triebbesetzt [...] und zum Teil fähig [ist], seine Triebe an sich selbst zu
befriedigen2)).
Ist dieser „asketische Charakter“ des Narzißmus sowie
unser obsessives, nicht anders als narzißtisch zu nennendes, Interesse für
unsere sexuelle Identität nicht ein starker Hinweis darauf, daß asketische Ideale
bei den neuen Sexualitätsdiskursen eine ebenso große Rolle spielen könnten wie
bei unserer Tendenz, uns mit „unserer“ Arbeit zu identifizieren?
Ist dem so, steht die Abwesenheit
von körperlicher Lust und der Objekte des Begehrens in den aktuellen Sexualitätsdiskursen für einen narzißtisch-asketischen Objektverzicht. Und nicht für einen Objektverlust, den wir – sekundär - durch
unsere obsessive Beschäftigung mit sexueller Identität abzuwehren versuchten. Der
Vorgang der Identifizierung, der diese Diskurse charakterisiert – also die obsessive Beschäftigung mit sexueller Identität - wäre dann nicht die Reaktion auf den Verlust der Objekte des
Begehrens, sondern ein proaktiver
Mechanismus, der uns entleiblicht, indem er uns – um des höheren
Ideals der sexuellen Identität willen – die Objekte „vom Leib hält“.
Narzißtisch-asketische Ideale bestimmen aber nicht bloß
unser Reden über Sexualität, sondern auch unseren realen Umgang mit ihr. 2008 ergab
eine Studie des Instituts für
Männergesundheit am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, bei der 10.000
Männer zu ihrem Liebesleben befragt wurden, daß deutsche Männer deutlich
weniger Sex – und deutlich weniger Lust am Sex - haben als in der Generation
davor. Die Tendenz sei fallend.
Hatten Anfang der 1980er Jahre Männer der
Altrsgruppe 18 bis 30 angegeben, im Schnitt alle ein bis zwei Tage mit einer Frau
zu schlafen, taten es knappe dreißig Jahre später Männer derselben Altersgruppe
nurmehr jeden dritten bis achten Tag. Männer zwischen 31 und 40 gaben 2008 an, alle
fünf bis zehn Tage Sex zu haben – Anfang der 1980er Jahre waren es noch alle drei
Tage gewesen. Hatten sich 41- bis 50-Jährige Anfang der 1980er Jahre noch alle
drei bis fünf Tage geliebt, liebten sie sich 2008 nurmehr alle zehn bis
fünfzehn Tage. Und die 51- bis 60-Jährigen von 2008 schliefen nurmehr höchstens
zwei Mal im Monat mit einer Frau – dreißig Jahre zuvor waren es immerhin alle
sechs bis sieben Tage gewesen.3)
Hauptursache für diesen drastischen Lustverlust ist
in den Augen der Hamburger Forscher interessanterweise die neue Haltung der betroffenen Männer - zur Arbeit.
„Wer seine Leidenschaft im Job aufbraucht und schon abends im Bett an die
Aufgaben des nächsten Tages denkt, hat den Kopf nun mal nicht frei für Sex.“4)
In dieselbe Kerbe schlägt die Sexualtherapeutin Laurie Watson von der Duke University in
North Carolina. „His work“ schreibt sie über den typischen lustlosen männlichen
Zeitgenossen, „is his mistress. When men are passionately involved with their
careers, they can sublimate sexual exitement that would normally be directed
towards their wives. The accolades, money and ego boost from being reguraly praized
or promoted, can be a turn-on“5)
Watson geht aber noch einen Schritt weiter, und
verortet eine andere Ursache für den massiven Lustverlust im Bedürfnis der Betroffenen
nach dem, was sie „sexuelle Autonomie“ nennt. Der typische nach „sexueller Autonomie“
strebende Mann
„doesn’t want to negotiate sex and so takes his
desire, literally, into his own hands. He masturbates to porn or his own
fantasies.“
Er masturbiert lieber statt sich der „komplexe[n]
Anstrengung einer vollständigen Kopulation“6) zu unterziehen, denn in
der körperlichen Liebe fürchtet er, ganz zu recht, nicht bloß seine Autonomie,
sondern sich selbst zu verlieren.
Eines haben beide von Watson angeschuldigten
Liebestöter - die Identifikation mit der Arbeit und das Bedürfnis nach sexueller
Autonomie – gemeinsam: sie sind in hohem Maße narzißtisch motiviert.
wird
fortgesetzt
1) Sigmund Freud, Triebe und Triebschicksale. In ders.,
Gesammelte Werke, Bd X, Frankfurt
am Main 1999, S. 227
2) Ebd.
3)
4)
5)
6) Slavoj Zizek, Ärger im Paradies. Vom Ende
der Geschichte zum Ende des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2015, S. 115
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