Weiter oben war die Rede von einer
Art Objektverlust in den aktuellen
Sexualitätsdiskursen. Butlers und Freuds Analysen des Zusammenhangs zwischen Objektverlust und Identifizierung (wir erkaufen „unsere“ Identität, indem wir uns mit den Objekten, die wir
nicht haben können, nicht haben wollen, nicht „haben wollen können“
identifizieren) können wir nun auch als Analysen eben dieser Diskurse zu lesen
versuchen. Tun wir dies, mag es uns nicht mehr als Zufall erscheinen, daß wir
uns umso obsessiver mit sexuellen Identitäten beschäftigen, je mehr uns die Fähigkeit
und die Lust abhanden kommt, real existierende Objekte zu begehren. Wir werden
noch sehen, daß dieser Zusammenhang vielleicht nicht bloß für unser Reden über,
sondern auch für unseren Umgang mit Sexualität gilt.
***
Nathan Christensen, CEO des
US-Personaldienstleisters Mammoth bot
seinen Mitarbeitern ein Jahr lang unbegrenzten Urlaub an – sie konnten soviel bezahlten
Urlaub nehmen, wie sie wollten. Mit dem Ergebnis, daß seine Angestellten nicht mehr Urlaubstage in Anspruch
nahmen als zuvor. In anderen US-Unternehmen, wo den Mitarbeitern das gleiche
Angebot gemacht worden war, hatten sich diese noch weniger frei genommen als in den Jahren zuvor, obwohl der
gesetzliche Urlaubsanspruch in den USA – je nach Bundesstaat - höchstens
fünfzehn Tage beträgt.
„Gefragt, was ihnen wichtig ist“, schreibt
Christensen in einem Erfahrungsbericht für das Magazin Fast Company, „nannten unsere Angestellten erst Krankenversicherung
und Altersvorsorge – und als drittes unbegrenzte Urlaubstage. Das war ihnen
wichtiger als zum Beispiel eine Zahnversicherung oder Weiterbildungskurse.“
Auf die Frage, warum seine Mitarbeiter, wenn ihnen
der Urlaub so wichtig sei, keinen Gebrauch vom Angebot ihres Chefs gemacht
hätten, meinte Christensen, das Angebot sei seinen Angestellten als Vertrauensbeweis wichtig gewesen. „Nicht
Manager oder Personalchefs sind dafür zuständig, daß Mitarbeiter ihre Aufgaben
schaffen, sondern die Mitarbeiter selbst – unabhängig davon, wieviel Zeit sie
im Büro verbringen.“1)
Die Mitarbeiter der Firma Mammoth sind, was ihr Verhältnis zur Arbeit betrifft, keine
exotischen Sonderlinge, sondern typische Zeitgenossen - wie wir, die wir uns
alle selbst dafür zuständig fühlen, „unsere
Aufgaben zu schaffen“, unabhängig davon, wieviel Zeit wir in der Firma
verbringen. Wir sind daher (sofern wir Arbeiter oder Angestellte sind) in der
Tat alle des Vertrauens unserer Vorgesetzten würdig, sind wir doch mit diesen unseren
Aufgaben, und überhaupt mit „unserer“ Arbeit identifiziert (was für die Selbständigen unter uns natürlich in
noch größeren Maß gilt) - und erachten die Identifikation mit „unserer“ Arbeit
als Voraussetzung für unsere „Selbstverwirklichung“, somit für ein geglücktes und
erfülltes Leben.
Heute ist die Frage, ob sich ein Bewerber
mit seiner potentiell zukünftigen Arbeit bzw. seiner potentiell zukünftigen
Firma zu identifizieren vermag, bei
Bewerbungsgesprächen ein mindestens ebenso wichtiges Kriterium wie die Frage
nach dessen fachlicher Qualifikation – als
verkauften wir heute nicht mehr „bloß“ unsere Arbeitskraft, sondern unsere
Seele.
Wie in den aktuellen Sexualitätsdiskursen existiert
jedenfalls auch hier ein enger Zusammenhang zwischen Identifizierung und
Objektverlust: Identifizierung mit Arbeit ist, wie uns das Phänomen der Urlaubsverweigerung
exemplarisch und sehr deutlich vor Augen führt, mit einem Verzicht auf real
existierende Güter verknüpft, in diesem Fall auf das Gut - oder das Objekt – „Freizeit“.
Anders als im Fall der Sexualitätsdiskurse scheint
es im Fall der Urlaubsverweigerungen aber nicht um ein Objekt zu gehen, das dem
Subjekt verloren geht, und dessen Verlust - nachträglich - durch Identifizierung
verarbeitet werden muß. Die Subjekte scheinen hier vielmehr freiwillig, um eines höheren Gutes
willen, auf das Objekt Freizeit zu verzichten. So als seien sie von asketischen
Idealen durchdrungen.
wird
fortgesetzt
1) Lara Hagen,
Was geschah, als Mitarbeiter ein Jahr lang unbegrenzt freinehmen konnten, derStandard.at
vom 1. Dezember 2015
http://derstandard.at/2000026740043/Wenn-Mitarbeiter-ein-Jahr-lang-unbegrenzt-frei-nehmen-koennen
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