Freitag, 1. Januar 2016

Stiller Fanatismus (8)



Weiter oben war die Rede von einer Art Objektverlust in den aktuellen Sexualitätsdiskursen. Butlers und Freuds Analysen des Zusammenhangs zwischen Objektverlust und Identifizierung (wir erkaufen „unsere“ Identität, indem wir uns mit den Objekten, die wir nicht haben können, nicht haben wollen, nicht „haben wollen können“ identifizieren) können wir nun auch als Analysen eben dieser Diskurse zu lesen versuchen. Tun wir dies, mag es uns nicht mehr als Zufall erscheinen, daß wir uns umso obsessiver mit sexuellen Identitäten beschäftigen, je mehr uns die Fähigkeit und die Lust abhanden kommt, real existierende Objekte zu begehren. Wir werden noch sehen, daß dieser Zusammenhang vielleicht nicht bloß für unser Reden über, sondern auch für unseren Umgang mit Sexualität gilt.

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Nathan Christensen, CEO des US-Personaldienstleisters Mammoth bot seinen Mitarbeitern ein Jahr lang unbegrenzten Urlaub an – sie konnten soviel bezahlten Urlaub nehmen, wie sie wollten. Mit dem Ergebnis, daß seine Angestellten nicht mehr Urlaubstage in Anspruch nahmen als zuvor. In anderen US-Unternehmen, wo den Mitarbeitern das gleiche Angebot gemacht worden war, hatten sich diese noch weniger frei genommen als in den Jahren zuvor, obwohl der gesetzliche Urlaubsanspruch in den USA – je nach Bundesstaat - höchstens fünfzehn Tage beträgt.

„Gefragt, was ihnen wichtig ist“, schreibt Christensen in einem Erfahrungsbericht für das Magazin Fast Company, „nannten unsere Angestellten erst Krankenversicherung und Altersvorsorge – und als drittes unbegrenzte Urlaubstage. Das war ihnen wichtiger als zum Beispiel eine Zahnversicherung oder Weiterbildungskurse.“

Auf die Frage, warum seine Mitarbeiter, wenn ihnen der Urlaub so wichtig sei, keinen Gebrauch vom Angebot ihres Chefs gemacht hätten, meinte Christensen, das Angebot sei seinen Angestellten als Vertrauensbeweis wichtig gewesen. „Nicht Manager oder Personalchefs sind dafür zuständig, daß Mitarbeiter ihre Aufgaben schaffen, sondern die Mitarbeiter selbst – unabhängig davon, wieviel Zeit sie im Büro verbringen.“1)

Die Mitarbeiter der Firma Mammoth sind, was ihr Verhältnis zur Arbeit betrifft, keine exotischen Sonderlinge, sondern typische Zeitgenossen - wie wir, die wir uns alle selbst dafür zuständig fühlen, „unsere Aufgaben zu schaffen“, unabhängig davon, wieviel Zeit wir in der Firma verbringen. Wir sind daher (sofern wir Arbeiter oder Angestellte sind) in der Tat alle des Vertrauens unserer Vorgesetzten würdig, sind wir doch mit diesen unseren Aufgaben, und überhaupt mit „unserer“ Arbeit identifiziert (was für die Selbständigen unter uns natürlich in noch größeren Maß gilt) - und erachten die Identifikation mit „unserer“ Arbeit als Voraussetzung für unsere „Selbstverwirklichung“, somit für ein geglücktes und erfülltes Leben.

Heute ist die Frage, ob sich ein Bewerber mit seiner potentiell zukünftigen Arbeit bzw. seiner potentiell zukünftigen Firma zu identifizieren vermag, bei Bewerbungsgesprächen ein mindestens ebenso wichtiges Kriterium wie die Frage nach dessen fachlicher Qualifikation – als verkauften wir heute nicht mehr „bloß“ unsere Arbeitskraft, sondern unsere Seele.

Wie in den aktuellen Sexualitätsdiskursen existiert jedenfalls auch hier ein enger Zusammenhang zwischen Identifizierung und Objektverlust: Identifizierung mit Arbeit ist, wie uns das Phänomen der Urlaubsverweigerung exemplarisch und sehr deutlich vor Augen führt, mit einem Verzicht auf real existierende Güter verknüpft, in diesem Fall auf das Gut - oder das Objekt – „Freizeit“.

Anders als im Fall der Sexualitätsdiskurse scheint es im Fall der Urlaubsverweigerungen aber nicht um ein Objekt zu gehen, das dem Subjekt verloren geht, und dessen Verlust - nachträglich - durch Identifizierung verarbeitet werden muß. Die Subjekte scheinen hier vielmehr freiwillig, um eines höheren Gutes willen, auf das Objekt Freizeit zu verzichten. So als seien sie von asketischen Idealen durchdrungen.

wird fortgesetzt

1) Lara Hagen, Was geschah, als Mitarbeiter ein Jahr lang unbegrenzt freinehmen konnten, derStandard.at vom 1. Dezember 2015

http://derstandard.at/2000026740043/Wenn-Mitarbeiter-ein-Jahr-lang-unbegrenzt-frei-nehmen-koennen

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