Georg Christoph Lichtenberg |
Bei einer vom Sigmund-Freud-Museum veranstalteten Podiumsdiskussion kritisierte ich jene Vertreter der Identitätspolitik, die den Eindruck erwecken, sie würden die komplexe Wechselbeziehung zwischen Sprache und Gesellschaft ausblenden und politisches Handeln auf die Reglementierung von Sprache reduzieren. Als gäbe es keine außersprachliche Realität, keinen stummen Zwang der ökonomischen und politischen Verhältnisse. Als würde Sprache unvermittelt Realität produzieren. Und als würden die Herrschenden herrschen, nicht indem sie herrschen, sondern indem sie sprechen. Eine Podiumsteilnehmerin, eine Soziologin, widersprach mir spontan. „Das sagt doch niemand!“ meinte sie. Und hatte natürlich recht. Explizit behauptet selbstverständlich niemand, dass Sprache, gleichsam auf magische Weise, Realität produziere, es sei denn sie oder er wäre – buchstäblich – verrückt.8
Ich verwies darauf, dass die Haltung, die ich im Blick hatte, niemals explizit vertreten würde, sich aber deutlich in zahlreichen identitätspolitischen Forderungen, Positionen und Aktionen nachweisen ließe – und beeilte mich, für dieses Ausblenden der Differenz zwischen dem Symbolischen und dem Realen konkrete Beispiele zu nennen.
Etwa die Proteste gegen die Installation Scaffold des US-amerikanischen Künstlers Sam Durant.9 Diesem wurde unter dem Schlachtruf „Exekution ist keine Kunst!“ vorgeworfen, seine – als kritische Auseinandersetzung mit der Praxis der Exekution in der Geschichte der USA konzipierte – Installation würde die Massenhinrichtung von Angehörigen der Dakota nach der Niederschlagung des Sioux-Aufstands 1862 reproduzieren. Ich gehe davon aus, dass die Träger jener Proteste keineswegs so verrückt waren, anzunehmen, Durants Installation hätte buchstäblich die Wiederholung jener Massenexekution bewirkt (was vorausgesetzt hätte, die Hingerichteten zum Leben zu erwecken und sie anschließend noch einmal hinzurichten). Allerdings wurde bei den Scaffold-Protesten genauso wie bei jenen gegen das Gemälde Open Cascet von Dana Schutz10 und anderen identitätspolitisch motivieren Protesten gegen Werke der Kunst deren Vernichtung gefordert (oder zumindest ihre Entfernung aus dem öffentlichen Raum), eine Forderung, der Durant, indem er seine Installation tatsächlich zerstörte, dann auch folgte.
Sofern sie nicht klinisch verrückt sind, können wir also den Trägern jener identitätspolitisch motivierten Proteste zwar die Fähigkeit zuschreiben, zwischen der empirischen Ebene der Realität und der symbolischen der Kunst unterscheiden zu können. Die regelmäßig erhobenen Forderung nach der Zerstörung der inkriminierten Kunstwerke verweisen jedoch auf ein magisches Denken, in dem die Differenz zwischen dem Realen und dem Symbolischen aufgehoben scheint. Als würde von jenen Werken eine reale Gefahr ausgehen, zu bannen einzig durch deren Zerstörung respektive Entfernung aus dem öffentlichen Raum.
Auf magisches Denken, dem Verleugnen der Differenz zwischen dem Symbolischen und dem Realen, haben Vertreter der Identitätspolitik allerdings kein Monopol. Neulich begegnete mir ein „privilegienkritisches“ Tweet, das von einem Facebook-Freund zitiert wurde und zahlreiche zum Teil heftige Reaktionen nach sich zog:
„Leute, die sich gewählt ausdrücken können, sind privilegiert und verfügen über eine Macht, in der sie anderen [...] das Gefühl geben können, sie seien moralisch oder intellektuell unterlegen. Das ist [...] gewaltvoll.“
Fragte man den Verfasser dieses Tweets, ob er annehme, dass „gewähltes Reden“ buchstäblich „gewaltvoll“ sei, dass gewählte Ausdrücke etwa wie Messerstiche Stichwunden verursachten, würde er dies natürlich verneinen. Es ist aber vorstellbar, dass Aussagen, die von solchen Prämissen ausgehen, bei jemandem, der sich, zu Recht oder zu Unrecht, „moralisch und intellektuell unterlegen“ fühlt, zu einem Kurzschluss zwischen dem Symbolischen und dem Realen führen können. Dass er etwa zum Messer greift, um einem, der sich gewählter Ausdrücke bedient, die „Gewalt“, die er ihm dadurch antut, in gleicher Münze heimzuzahlen.
Freilich ist ebenso vorstellbar, dass ein solch absurder „Diskurs“, dem es längst nicht mehr um „Bildung für alle“, sondern um „Dummheit für alle“ zu tun ist, den Impuls, die Ebenen des Symbolischen und des Realen kurzzuschließen und das argumentum ad baculum11 in Anschlag zu bringen, auch bei dessen Kritikern auszulösen vermag. Ein Impuls vor dem – in ihrer Kritik am absurden physiognomischen Diskurs ihrer Zeit – auch Hegel und Lichtenberg nicht gefeit waren.
„Lichtenberg, der das physiognomische Beobachten so charakterisiert, sagt [...]: ‚Wenn jemand sagte, du handelst zwar wie ein ehrlicher Mann, ich sehe es aber aus deiner Figur, du zwingst dich und bist ein Schelm im Herzen; fürwahr eine solche Anrede wird bis ans Ende der Welt von jedem braven Kerl mit einer Ohrfeige erwidert werden.’ – diese Erwiderung ist deswegen treffend, weil sie die Widerlegung der ersten Voraussetzung einer solchen Wissenschaft des Meinens ist, daß nämlich die Wirklichkeit des Menschen sein Gesicht sei [Hervorhebungen im Original].“12
schreibt Hegel im Kapitel Gewißheit und Wahrheit der Vernunft seiner Phänomenologie des Geistes.
wird fortgesetzt
8 Oder sie oder er wäre gläubig im religiösen Sinn und glaubte etwa an die Macht des Gebets.
9 Dies ist keine Exekution, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Juni 2017
Vgl. auch
http://samamaani.blogspot.com/2019/12/exekution-ist-keien-kunst.html
10
https://news.artnet.com/art-world/dana-schutz-painting-emmett-till-whitney-biennial-protest-897929
11 wörtlich „Argument mit dem Stock“.
12 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Stuttgart 1987, S. 232
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