Aber ist es denn überhaupt sicher,
daß materielles Elend „thymotische Tugenden“, somit die Bereitschaft, sich politisch,
emanzipatorisch oder gar revolutionär zu engagieren (in jedem Fall) fördert?
In seinem weiter oben zitierten Text Reflexionen zur Klassentheorie schreibt
Adorno, daß eine Industrie, die „ihre Opfer an physisch Verstümmelten,
Erkrankten, Deformierten“ fordere, auch „das Bewußtsein zu deformieren“ drohe, um
dann zu fragen, wie „die so Bestimmten zur [politischen, Anm. von mir] Aktion
fähig sein sollen, welche doch nicht bloß Klugheit, Überblick und
Geistesgegenwart, sondern die Fähigkeit zur äußersten Selbsaufopferung“1)
verlange.
Kann es also sein, daß materielles
Wohlbefinden nicht nur nicht - wie
Sloterdijk behauptet - einen Schwund an politischem Interesse und Engagement bewirkt,
sondern daß im Gegenteil materielles Wohlbefinden die Voraussetzung für das Interesse an thymotischen Tugenden und an politischer
„Aktion“ bildet? Daß Fähigkeit und Bereitschaft zur „Aktion“ unter den
Bedingungen des Elends nicht nur nicht zunehmen - sondern schwinden?
Adorno räumt allerdings ein, daß sich
der Lebensstandard der Arbeiter „gegen die englischen Zustände vor hundert
Jahren“ (er schrieb dies 1942) signifikant verbessert hätte, so daß „die
Proletarier“, wie er in Anspielung auf das Kommunistische
Manifest von 1848 konstatiert, „mehr zu verlieren [haben] als ihre Ketten
... Kürzere Arbeitszeiten, bessere Nahrung, Wohnung und Kleidung, Schutz der
Familienangehörigen und des eigenen Alters durchschnittlich höhere Lebensdauer“2).
Sloterdijks Rede von den „materiellen
Vergütungen“ macht, so gesehen, also Sinn – wiewohl für Adorno, anders als für
Sloterdijk, die verbesserte Lebenssituation nicht mit einer Art List der „Erotik“
in Zusammenhang steht, sondern mit der Entwicklung der „technischen
Produktivkräfte“ – und des modernen Sozialstaats, dessen Anfänge in Deutschland
auf Bismarcks Sozialgesetze zurückgehen, verabschiedet in der dezidierten Absicht,
revolutionäre Umtriebe der organisierten Arbeiterschaft zu verhindern.
Adorno schrieb die Reflexionen zur Klassentheorie vor einem
Dreivierteljahrhundert. Seither haben sich die „technischen Produktivkräfte“ natürlich
weiterentwickelt - und der Sozialstaat (dessen Entwicklung unter der nationalsozialistischen
„Gefälligkeitsdiktatur“3) einen Höhepunkt erreicht hatte) wurde bis
in die 1970er Jahre – und nicht zuletzt aufgrund der Systemkonkurrenz zwischen
den kapitalistischen und den realsozialistischen Staaten - weiter ausgebaut. Danach
setzte ein Prozeß der schrittweisen Rücknahme von Sozialleistungen ein, der in
Deutschland, spätestens nach dem Fall der Mauer, in einen regelrechten
Sozialabbau mündete - und seinen augenfälligsten Ausdruck im Workfare-Programm Hartz IV fand: der „Abkehr
vom sozialstaatlichen Ziel der Statussicherung hin zum Ziel der
Existenzsicherung.“4)
Das alles bedeutet zwar keinen Rückfall
in „englische Zustände“ des 19. Jahrhunderts – allerdings beraubt die
Konfrontation mit diesen Tatsachen Sloterdijks Behauptung, wonach wir uns, unseres
Hedonismus wegen, „bestechen“ lassen und unsere „thymotische Seele“ verkaufen würden5),
einer wesentlichen Voraussetzung: hätten unsere „thymotischen Tugenden“ und unser
Interesse an politischer Aktion - da sich die „Bestechungssumme“,
die uns den Stolz abkaufen soll, seit Jahrzehnten verringert - nicht eher zunehmen
als schwinden müssen?
wird
fortgesetzt
1) Theodor W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie. In:
ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8 ,
Frankfurt am Main 2003, S. 388
2) Ebd. S. 384
3) So der Historiker Götz Aly, Autor
des Buches Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus
in einem Spiegel-Artikel vom März 2005, wo es u.a. heißt: „Materieller
Ausgleich und soziale Aufwärtsmobilisieurng [...], kollektiver und schnell
spürbarer Wohlstand für das Herrenvolk auf Kosten sogenannter Minderwertiger,
so lautete die wenig komplizierte, in Deutschland populäre Zauberformel des
NS-Staats“.
4) Hans Otto Rößer, Krieg
dem Pöbel. Die neuen Unterschichten in der Soziologie deutscher
Professoren.
http://www.nachdenkseiten.de/?p=3503
5) Bzw. jene von uns, die direkt oder indirekt vom Wohlfahrtsstaat profitieren.
5) Bzw. jene von uns, die direkt oder indirekt vom Wohlfahrtsstaat profitieren.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen