Hätte
das Christentum viele Jahrhunderte lang „das gesamte thymotische Feld durch den
Vorwurf der superbia [also der Hochmut,
Anm. von mir]“ abzuriegeln, und „Ehre, Ambition, Stolz [...] hinter einer
dichten Wand von moralischen Vorschriften“ zu verbergen versucht -
so erreiche der „aktuelle Konsumismus [...] dieselbe Ausschaltung des Stolzes zugunsten der Erotik ohne altruistische
[...] und sonstige vornehme Ausreden, indem
er den Menschen ihr Interesse an Würde durch materielle Vergünstigungen abkauft“.
Den
„Konsumismus“ finden wir also hier am Pol der „Erotik“ und in enger
Nachbarschaft zu Materialismus, Hedonismus - und zur Gier – angesiedelt. Und unsere
Selbstbeurteilung als hedonistisch und materialistisch sowie die Verurteilung dieses
unseres (angeblichen) Hedonismus und Materialismus von einem der
einflußreichsten deutschen Philosophen der Gegenwart voll bestätigt.
Von hier aus - von Menschen, deren
(angeblicher) Hedonismus ihr „Interesse an Würde“ ausgelöscht haben soll, ist
es nicht weit zu jenen Zeitgenossen, deren
(angeblicher) Hedonismus für ihr Desinteresse an der Kategorie Politik oder gar
Emanzipation verantwortlich sein soll.
Tatsächlich ist Politik, die über die
entpolitisierte „Postpolitik“ des bloßen Verwaltens, „die Kabel verlegt, Bildung
vermarktet und öffentliches Eigentum verschleudert“1), hinausgehen
will - „politische Politik“ also - ohne leidenschaftliches Engagement,
ohne Kampf- und mitunter auch Opferbereitschaft nicht zu haben. Allesamt Tugenden,
die Sloterdijk dem „thymotischen Pol“ zuordnen würde.
Diese unsere letzte Überlegung führt
uns mitten ins Herz traditioneller Theoriedebatten der Linken - zu der klassischen
Frage nach den subjektiven Bedingungen gesellschaftlicher Veränderung: Kann –
oder muß - „der Druck der Armut unmittelbar zur Kraft gegen die Unterdrücker“2)
werden, wie Adorno schreibt? Gibt es also, wie die Vertreter der sogenannten
Verelendungstheorie3) einmal behaupteten, so etwas wie einen – unausweichlichen
– Zusammenhang zwischen dem (zunehmendem) Elend der benachteiligten Klassen und
dem Ausbruch „der Revolution“?
Die These des „elastischen
Konservativen“4) Peter Sloterdijk liest sich wie eine Bestätigung jener
traditionell-marxistischen Verelendungstheorie – im Umkehrschluß: Wenn Wohlstand
dazu führen soll, daß die begünstigten Subjekte das „Interesse an Würde“ verlieren
(und an anderen für den politischen Kampf unabdingbaren „thymotischen Tugenden“,
wie wir hinzufügen müssen), dann müßte materielles Elend, im Umkehrschluß, ihr
Interesse an thymotischen Tugenden fördern. Und sie in letzter Konsequenz zu
revolutionären Subjekten machen.
wird
fortgesetzt
1) Ulrich Brieler, Die Kunst des Unmöglichen, taz.de, 27.
November 2001
https://web.archive.org/web/20070222052519/http://www.france-mail-forum.de/fmf24/art/24Briele.html
2) Theodor W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie. In:
ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8 ,
Frankfurt am Main 2003, S. 388
3) Der Verelendungstheorie gemäß geht
die wachsende Akkumulation des Kapitals mit einer zunehmenden Verelendung der
Arbeiter einher. Was genau unter „Verelendung“ zu verstehen ist, wurde – und
wird – in linken Theoriedebatten kontrovers diskutiert. Marx selbst hat den
Begriff „Verelendungstheorie“ nicht verwendet, und auch dort, wo er von
„einer[r], der Akkumulation von
Kapital entsprechende[n] Akkumulation von Elend [aufseiten der Arbeiter, Anm.
von mir]“ spricht (Karl Marx, Das Kapital,
Bd. 1, Hamburg 1872, S. 671), meint dieses „Elend“ nicht bloß – und auch nicht
in erster Linie - das materielle, schließt es doch die im selben Atemzug genannten
Bestimmungen „Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und
moralische Degradation“ mit ein. Die Kategorie Lohn (bzw. die Lohnhöhe)
betrachtet Marx für die „schlechte Lage“ der Arbeiter jedenfalls nicht als
(allein) ausschlaggebend: „Es folgt daher, daß in dem Maße wie Kapital
akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches
immer seine Zahlung, hoch oder
niedrig, sich verschlechtern muß“ (Ebd. [Hervorhebung von mir]).
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