Mittwoch, 2. Dezember 2015

Stiller Fanatismus (3)



Hätte das Christentum viele Jahrhunderte lang „das gesamte thymotische Feld durch den Vorwurf der superbia [also der Hochmut, Anm. von mir]“ abzuriegeln, und „Ehre, Ambition, Stolz [...] hinter einer dichten Wand von moralischen Vorschriften“ zu verbergen versucht - so erreiche der „aktuelle Konsumismus [...] dieselbe Ausschaltung des Stolzes zugunsten der Erotik ohne altruistische [...] und sonstige vornehme Ausreden, indem er den Menschen ihr Interesse an Würde durch materielle Vergünstigungen abkauft“.

Den „Konsumismus“ finden wir also hier am Pol der „Erotik“ und in enger Nachbarschaft zu Materialismus, Hedonismus - und zur Gier – angesiedelt. Und unsere Selbstbeurteilung als hedonistisch und materialistisch sowie die Verurteilung dieses unseres (angeblichen) Hedonismus und Materialismus von einem der einflußreichsten deutschen Philosophen der Gegenwart voll bestätigt.

Von hier aus - von Menschen, deren (angeblicher) Hedonismus ihr „Interesse an Würde“ ausgelöscht haben soll, ist es nicht weit zu jenen Zeitgenossen, deren (angeblicher) Hedonismus für ihr Desinteresse an der Kategorie Politik oder gar Emanzipation verantwortlich sein soll.

Tatsächlich ist Politik, die über die entpolitisierte „Postpolitik“ des bloßen Verwaltens, „die Kabel verlegt, Bildung vermarktet und öffentliches Eigentum verschleudert“1), hinausgehen will - „politische Politik“ also - ohne leidenschaftliches Engagement, ohne Kampf- und mitunter auch Opferbereitschaft nicht zu haben. Allesamt Tugenden, die Sloterdijk dem „thymotischen Pol“ zuordnen würde.

Diese unsere letzte Überlegung führt uns mitten ins Herz traditioneller Theoriedebatten der Linken - zu der klassischen Frage nach den subjektiven Bedingungen gesellschaftlicher Veränderung: Kann – oder muß - „der Druck der Armut unmittelbar zur Kraft gegen die Unterdrücker“2) werden, wie Adorno schreibt? Gibt es also, wie die Vertreter der sogenannten Verelendungstheorie3) einmal behaupteten, so etwas wie einen – unausweichlichen – Zusammenhang zwischen dem (zunehmendem) Elend der benachteiligten Klassen und dem Ausbruch „der Revolution“?

Die These des „elastischen Konservativen“4) Peter Sloterdijk liest sich wie eine Bestätigung jener traditionell-marxistischen Verelendungstheorie – im Umkehrschluß: Wenn Wohlstand dazu führen soll, daß die begünstigten Subjekte das „Interesse an Würde“ verlieren (und an anderen für den politischen Kampf unabdingbaren „thymotischen Tugenden“, wie wir hinzufügen müssen), dann müßte materielles Elend, im Umkehrschluß, ihr Interesse an thymotischen Tugenden fördern. Und sie in letzter Konsequenz zu revolutionären Subjekten machen.

wird fortgesetzt

1) Ulrich Brieler, Die Kunst des Unmöglichen, taz.de, 27. November 2001

https://web.archive.org/web/20070222052519/http://www.france-mail-forum.de/fmf24/art/24Briele.html

2) Theodor W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8 , Frankfurt am Main 2003, S. 388   

3) Der Verelendungstheorie gemäß geht die wachsende Akkumulation des Kapitals mit einer zunehmenden Verelendung der Arbeiter einher. Was genau unter „Verelendung“ zu verstehen ist, wurde – und wird – in linken Theoriedebatten kontrovers diskutiert. Marx selbst hat den Begriff „Verelendungstheorie“ nicht verwendet, und auch dort, wo er von „einer[r], der Akkumulation von Kapital entsprechende[n] Akkumulation von Elend [aufseiten der Arbeiter, Anm. von mir]“ spricht (Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, Hamburg 1872, S. 671), meint dieses „Elend“ nicht bloß – und auch nicht in erster Linie - das materielle, schließt es doch die im selben Atemzug genannten Bestimmungen „Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralische Degradation“ mit ein. Die Kategorie Lohn (bzw. die Lohnhöhe) betrachtet Marx für die „schlechte Lage“ der Arbeiter jedenfalls nicht als (allein) ausschlaggebend: „Es folgt daher, daß in dem Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß“ (Ebd. [Hervorhebung von mir]).

4) Andreas Tobler, Der elastische Konservative, Tages-Anzeiger, 25. Juni 2014

Keine Kommentare: