Sonntag, 20. Dezember 2015

Stiller Fanatismus (6)



Als Woody Allen einmal gefragt wurde, ob Sex schmutzig sei, soll er gesagt haben: „Wenn er richtig gemacht wird, schon.“

Könnte es aber sein, daß Wurst gerade wegen ihrer Reinheit von sexuellem Begehren zum Symbol der neuen Akzeptanz sexueller Minderheiten werden konnte? Daß das Absehen von sexuellem Begehren hier (im Gegensatz zu jener Haltung, die uns in der Prückel-Debatte begegnete) zur Bedingung der Möglichkeit der Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten geworden ist? Nach dem unausgesprochenen Motto: wenn es erst gelingt, das Sexuelle aus der Sexualität auszutreiben1), ist es ein leichtes, sexuell abweichendes Verhalten zu tolerieren (weil es dann, ohnehin Wurst ist, wie man hinzuzufügen versucht ist).

So gesehen, erscheint Wurst in ihrer ätherischen, dem Leiblichen entrückten Makellosigkeit als Verkörperung der Körperlosigkeit der aktuellen Diskurse über Sexualität.

In ihrem für die Gendertheorie richtungsweisenden Text Gender Trouble2) weist Judith Butler – durchaus zu recht – darauf hin, daß nicht bloß jene uns soziokulturell zugeschriebene geschlechtliche Identität – also gender – sprachlich konstruiert ist, sondern auch das - im Englischen sex genannte - sogenannte biologische Geschlecht. Biologie, zusammengesetzt aus bíos und lógos könnte man ja auch mit „Reden über das Leben“ übersetzen. Butlers Arbeiten „befassen sich“ konsequenterweise alle, „mit je unterschiedlichen Schwerpunksetzungen, mit der Rolle von Sprache in und für Gesellschaft“3).

Daß allerdings Sprache nicht alles ist, daß jenseits und außerhalb der Sprache eine „Wirklichkeit der Körper und der Gesellschaft“ - und zwischen dieser Wirklichkeit und der Sprache eine komplexe Wechselbeziehung – existiert, dessen ist sich Butler natürlich bewußt:

„The claim that a discourse ‚forms’ the body is no simple one, and from the start we must distinguish how such ‚forming’ is not the same as a ‚causing’ and ‚determining’, still less is it a notion that bodies are somehow made of discourse pure and simple.“ 4)

Dennoch scheinen Butlers Theorien repräsentativ für einen weit verbreiteten Typus öffentlichen Redens über Sexualität, der über den „queeren Diskurs“, mit dem sie im allgemeinen identifiziert wird, weit hinausreicht. Ein Diskurs, in dem Sexualität kaum mehr mit körperlicher Lust, mit Begehren und den Objekten des Begehrens - und schon gar nicht mit Trieben - zu tun haben scheint. Eine Art „Sexualität ohne Sex, in dem sich Reden über Sexualität immer mehr und immer ausschließlicher in Reden über „sexuelle Identität“ verwandelt.

wird fortgesetzt  

1) Vgl.: Lars Quadfasel, Lieber ohne Anfassen, Jungle World Nr. 51, 18. Dezember 2014

2) Judith Butler, Gender Trouble, London, 2006

3) Anna-Lisa Müller, Worte schaffen Soziales: Wie Sprache Gesellschaft verändert, Jornal für Psychologie, Ausgabe 1, 2011

http://www.journal-fuer-psychologie.de/index.php/jfp/article/view/14/87

4) Judith Butler, The Psychic Life of Power. Theories of Subjection, Stanford 1997, S. 84

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