Wie sieht es aber mit der anderen
Voraussetzung der Behauptung Sloterdijks aus, die da lautet, daß wir
hedonistisch sind?
Wenn wir „Hedonismus“ sagen – und
wissen, daß Hedonismus mit Lust zu tun hat -, fällt uns zu „Lust“ in aller
Regel zunächst sexuelle Lust ein. So
als stimmten wir intuitiv mit den Lehren der Kyrenaiker – und übrigens auch mit
der Psychoanalyse – überein, wonach sexuelle Lust die Grundlage jeder Lust, und
die Voraussetzung eines geglückten Lebens bilde.
Ob unsere Gegenwartskultur also tatsächlich
„hedonistisch“ ist oder nicht, müßte sich
– wenn wir dieser unserer Intuition, den Kyrenaikern und der Psychoanalyse folgen
– am besten an ihrem Verhältnis zur Sexualität
festmachen lassen.
Im Januar 2015 kam es im traditionsreichen
Wiener Café Prückel zur folgenden Episode. Ein lesbisches Paar, das wegen
eines Begrüßungskusses vom Kellner
ermahnt worden war, und sich daraufhin bei der Chefin beschwert hatte, wurde von
dieser des Lokals verwiesen. Der Vorfall geriet in die Schlagzeilen, es kam zu
einer Protestkundgebung vor dem Café.
Interessant für unseren Zusammenhang
ist nicht die Episode als solche,
sondern die Reaktionen darauf. In Internetforen und privaten Diskussionen behaupteten
Prückel-Insider, das Paar sei nicht als lesbisches
Paar hinausgeworfen worden – was
selbstverständlich nicht akzeptabel gewesen wäre. Vielmehr habe es sich bei
jenem Kuß um „mehr als um einen
Begrüßungskuß“ gehandelt - jedes Paar,
auch ein heterosexuelles, das sich im Prückel „so intensiv“ geküßt hätte, wäre
des Lokals verwiesen worden.
Auf diese „Aufklärung“ reagierten andere
Diskussionsteilnehmer häufig mit Aussagen wie: „Ach so. Das wäre aber etwas ganz
anderes.“ Oder: „So gesehen, wäre das ja nachvollziehbar“ - und ähnlichen
Aussagen.
In der Haltung, die hier zum Ausdruck
kommt, scheint Intoleranz gegenüber abweichendem sexuellen Verhalten akzeptabel
zu sein, wenn sie vor dem Hintergrund der Ablehnung von sexuellem Verhalten als solchem stattfindet (oder von „allzu
sexuellem“ Verhalten). Wobei jene Ablehnung der „Sexualität als solcher“ - im
Unterschied zur Ablehnung des „abweichenden sexuellen Verhaltens“ – nicht als problematisch
empfunden wird.
Interessanter als die Frage, wie repräsentativ
diese Position sein mag, ist nun folgende erstaunliche Beobachtung: Die Tendenz,
„sexuelles Begehren als solches“ unsichtbar
machen zu wollen, die in der Prückel-Affäre das Akzeptieren von Intoleranz gegenüber dem „spezifischen
Begehren“ sexueller Minderheiten möglich gemacht hat - dieses selbe Absehen(wollen) von sexuellem Begehren, wird im Rahmen der
gesellschaftlichen Diskurse über Sexualität - umgekehrt - zur Bedingung der
Möglichkeit der Toleranz gegenüber
sexuellen Minderheiten.
„Heute“, schreibt Tjark Kunstreich „scheint
es selbstverständlich, daß queer
irgendwie alles ist, was sich selbst eine Abweichung von der Norm zuschreibt.
Niemand will heute mehr normal sein, also sind alle queer.“1) Daß queer-Sein heute in der Mitte der
Gesellschaft angekommen ist, auch in konservativ-bürgerlichen Kreisen, zeigt
sich augenfällig an der Akzeptanz, die der Kunstfigur Conchita Wurst alias Tom
Neuwirth entgegenschlägt, die, in Österreich, nach ihrem Sieg im Eurovision
Song Contest 2014, monatelang allgegenwärtig zu sein schien, „auf [...]
Plakatwänden, in der TV-Werbung, als Eissorte oder als Weißwurst.“2)
Neuwirth verlangt, die Anerkennung
seiner öffentlichen Persona „Conchita Wurst“ als Frau, und Respekt vor dieser
seiner Maske. Ein Respekt, der ihr -
nach anfänglicher Irritation ob seiner Verkleidung als zierliche Frau mit Bart -
auch tatsächlich entgegengebracht wurde.
„Spätestens seit Conchita Wurst ist
klar: Die Gesellschaft - selbst die österreichische – scheint, was die
Akzeptanz ‚devianter’ Sexualitäten angeht, besser als ihr Ruf zu sein.
Zumindest hat sich etwas getan, denn eine bärtige Frau, die noch dazu schwul ist,
hätte es vor zehn oder zwanzig Jahren vermutlich nicht zum Medienstar
gebracht.“3)
Diesen und zahlreichen anderen, ähnlichen
Kommentaren wird man kaum widersprechen wollen. Niemanden scheint es aber zu
wundern, daß als Symbol der Befreiung der Sexualität
eine Kunstfigur gelten soll, die wir beim besten Willen mit Sexualität - mit
Sexualität, die etwas mit sexuellem Begehren zu tun haben soll – nicht und
nicht in Verbindung zu bringen vermögen. Scheint sie doch in ihrer strahlenden
Reinheit und Makellosigkeit - ganz im Gegenteil - für die Befreiung von Sexualität zu stehen.
Als Woody Allen einmal gefragt wurde,
ob Sex schmutzig sei, soll er gesagt haben: „Wenn er richtig gemacht wird,
schon.“
wird
fortgesetzt
1) Tjark Kunstreich, Dialektik der Abweichung. Über das Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation,
Hamburg 2015, S. 73
2) Wolfgang Koch, Tjark Kunstreich - Der Homosexuelle als Aufklärer. In:
http://blogs.taz.de/wienblog/2015/06/29/tjark-kunstreich-der-homosexuelle-als-aufklaerer-23/
3) Emil Flatschart, Was ist denn nun wirklich pervers?, unique, Ausgabe 06/14
http://www.univie.ac.at/unique/uniquecms/?p=4835
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