Bagher Khan, eine Schlüsselfigur der konstitutionellen Revolution |
Ein vor kurzem aus Teheran nach Wien emigrierter Freund - nennen wir ihn Kave - schloß einen Bericht über seine erste Begegnung mit dem Rassismus hierzulande mit den Worten: Daß es so etwas noch gibt. Dabei schreiben wir doch schon 2014! Ich mußte an eine Szene aus der Verfilmung von Jane Austens Sense and Sensibility denken, in der einer der Protagonisten, ähnlich empört wie mein Freund aus Teheran, ausruft: Dabei schreiben wir doch schon 1806! – woraufhin im Kino gelacht wurde.
Wären wir Teheraner nicht überaus höflich, und wäre mir der
österreichische Rassismus aus eigener Erfahrung nicht allzu bekannt – ich hätte
über das Doch-schon-2014 meines Freundes genauso gelacht wie über
das Doch-schon-1806 im Kino. Das Gelächter über das Doch-schon-1806 im
Kino hatte sich natürlich auf die Jahreszahl 1806 bezogen, wohingegen mein -
aus Rücksicht unterdrücktes - Lachen über das Doch-schon-2014 meines
Freundes mit dem Doch-schon zu tun gehabt hätte.
Hätte ich meine Rücksichtnahme beiseite geschoben und tatsächlich
gelacht, hätte ich meinen belesenen und
politisch interessierten Freund dann gefragt, wie er nach der iranischen
Erfahrung der letzten einhundert Jahre an ein solches Doch-schon überhaupt
glauben könne.
Denn, wenn es ein Land gibt, das geeignet wäre, einen an diesem Doch-schon -
am Gedanken also, es würde auf der Welt von Jahr zu Jahr freier, brüderlicher
und gerechter, zugehen - irre werden zu lassen, ist es der Iran.
Vor über einhundert Jahren erkämpften sich iranische Kaufleute, Handwerker, Intellektuelle, aber auch Teile des Klerus und der Aristokratie, während der blutigen konstitutionellen Revolution, 1905 bis 1911, ein Parlament und eine demokratische Verfassung nach belgischem Vorbild. Dabei kämpften und siegten sie gegen die absolut herrschenden Kajaren–Kaiser und ihrem Verbündeten, dem zaristischen Russland. Frauen(rechtlerinnen) spielten bei dieser - überwiegend säkularen - Revolution übrigens eine herausragende Rolle.
Unter der Pahlevi-Dynastie (1925 bis 1979), die die Kajaren
ablöste, blieb die konstitutionell-demokratische Verfassung in Kraft. De facto
waren die Pahlevi-Kaiser aber Dikatoren, und ihre Regime repressiver als die
zum Teil schwachen Kajaren-Kaiser. Eine Ausnahme bildeten die Jahre 1941 bis
1953, die wohl demokratischste Periode in der Geschichte Irans, an deren Ende
ein weiterer revolutionärer Schub stand: Die Bewegung zur Verstaatlichung des
iranischen Erdöls, die mit dem Namen des damaligen Premierministers, Mohammad
Mossadegh, verbunden ist. 1953 wurde Mossadegh gestürzt - danach begann die
Diktatur des zweiten und letzten Pahlevi-Kaisers.
1979 kam es zur Islamischen Revolution – die entgegen anderslautender
Gerüchte das Prädikat islamisch durchaus zurecht trägt, war sie doch von Anfang
islamisch geprägt. Dennoch zielte die Mehrheit der Revolutionäre auf eine
gerechtere und freie Gesellschaft. Was herauskam, ist bekannt. Nicht genug, daß
die iranische Gesellschaft nicht freier wurde; daß Freiheiten, die es unter dem
letzten Kaiser noch gab, etwa das Recht der Frauen auf Scheidung, oder das
Sorgerecht für geschiedene Frauen, um nur zwei Beispiele zu nennen, abgeschafft
wurden - in der Islamischen Republik erlebten die Iraner(innen) gänzlich neue -
bzw. seit langem unbekannt gewesene - Dimensionen der Unfreiheit:
Kopftuchzwang, die Todesstrafe für Homosexuelle, Steinigung bei außerehelicher
Liebe, die Todesstrafe für den Abfall vom Islam, die Entrechtung hundertausender
Angehöriger religiöser Minderheiten und anderes mehr. Unfreiheiten, die man
sich im Iran der 1950er und 1960er Jahre nicht hätte vorstellen können, zum
Teil vielleicht nicht einmal zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, zur Zeit
der konstitutionellen Revolution.
Hier liegt allerdings eine doppelte Unvorstellbarkeit vor: Daß ein
Ehemann in der Islamischen Republik seine Ehefrau, die er beim Ehebruch
erwischt hat, ohne Strafverfolgung befürchten zu müssen, töten kann, 9-jährige
Mädchen hingegen strafmündig sind – das hätte sich vor einhundert Jahren eine
Frauenrechtlerin der konstitutionellen Revolution nicht vorstellen können.
Umgekehrt können wir im Jahre 2014 uns nicht vorstellen, daß es
Frauenrechtlerinnen im Iran vor einhundert Jahren überhaupt gab.
Wie wir uns ohnehin nicht vorstellen können, daß es in einem Land, in
dem sich 1979 eine islamische Revolution ereignete, 1905 bis 1911 eine
demokratisch-liberale stattgefunden haben soll.
Revolutionen sind für Marx die Lokomotiven der Weltgeschichte, die deren
Grundtendenz zum Fortschritt – jenes Doch-schon meines
Freundes Kave – noch beschleunigen sollen. Die iranische Erfahrung scheint
Marx, und Kave, aber krass zu widersprechen. Und sie befindet sich dabei in
allerbester Gesellschaft: Seit Jahren wird die Rede von der Revolution
als Lokomotive fast nur mehr im Zusammenhang mit dem Widerspruch
zitiert, die sie beim Literaturkritiker und Philosophen Walter Benjamin
erfahren hat:
Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven
der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind
Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach
der Notbremse.
Anders als für Marx ist für Benjamin Geschichte die Stätte des Unheils, eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft, und wenn denn geschichtlicher Fortschritt für Benjamin überhaupt einen
Sinn hat, dann als ein Fortschreiten der Herrschenden von einem Sieg zum
nächsten. So gesehen sollten uns Revolutionen nicht die Befreiung in der
Geschichte bescheren, sondern die Erlösung von ihr.
Wird diese Geschichtstheorie Benjamins der iranischen Erfahrung
gerechter als diejenige von Marx, und meines Freundes Kave? Was Marx‘
Geschichts-Optimismus - und Kaves Doch-schon – betrifft, bzw.
Benjamins radikalen Pessimismus, scheint dies der Fall zu sein. Was vor über einhundert Jahren so hoffnungsvoll begann, mit einem für ein islamisches Land
des Jahres 1905 unmöglichen demokratischen Aufbruch, endete
mit einem Im-Grunde-Unmöglichen anderer Art: Der Islamischen
Republik.
Die Rolle der Revolutionen scheint Benjamin aber, zumindest was den Iran
anbelangt, ebenso falsch einzuschätzen wie Marx. In den letzten einhundert
Jahren scheint es im Iran nach jeder revolutionären Anstrengung noch schlimmer geworden zu sein. Die konstitutionelle Revolution mündete in
die Diktatur des ersten, die Bewegung zur Verstaatlichung des Erdöls in die
Diktatur des zweiten Pahlevi-Kaisers. Und die islamische Revolution in ein
Mörderregime, das uns an das Universum eines perversen Fantasy-Autors erinnert.
Wenn der Zug der Geschichte in den Abgrund führt, wie Benjamin meint,
dann haben die Revolutionen im Iran nicht die Notbremse gezogen, sie sind, ganz
im Gegenteil, aufs Gas gestiegen. Das drängt sich zumindest im Fall der
islamischen Revolution auf.
wird fortgesetzt
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