Samstag, 23. August 2014

Warum wir immer dümmer werden (2)


Barcelona 1937. Marina Ginèsta, 17 Jahre, von den Juventudes Comunistas
Aber halt. Wenn es stimmt, daß es im Iran nach jeder revolutionären Anstrengung nur noch „schlimmer“ geworden ist - dann müßte die Situation im Iran vor der konstitutionellen Revolution, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts also, „viel besser“ gewesen sein als heute, im Jahr 35 nach der Islamischen Revolution. Eine - schon auf dem ersten Blick - absurde Vorstellung. In den letzten einhundert Jahren haben sich im Iran Faktoren wie Einkommen, Gesundheit, Bildung, Lebenserwartung, soziale Sicherheit etc. drastisch und - da von einem tieferen Ausgangsniveau aus startend – auch stärker verbessert als in Europa oder den USA. Vor einigen Jahren haben US-Gesundheitsexperten das iranische Gesundheitssystem – speziell die sogenannten „Gesundheitshäuser“ in entlegenen ländlichen Regionen - den Zuständigen in den Südstaaten der USA sogar zur Nachahmung anempfohlen1.

Mehr noch: Auch die oben kritisierte Situation der iranischen Frauen hat sich – Islamische Republik hin oder her – verglichen mit der Zeit um 1900 in vielerlei Hinsicht drastisch verbessert: 60% (!) der vier Millionen Studenten im Iran, ein Viertel des akademischen Personals und immerhin 8% der Parlamentsabgeordneten sind weiblich. Ein Drittel aller Frauen ist berufstätig (Stand 2012)2.

Für jenes Doch-schon – also für den Geschichtsoptimismus - meines Freundes Kave scheint es also doch gute Argumente zu geben. Wie lassen sich aber all diese Fortschritte im Iran, wie auch anderswo auf der Welt, mit jenem Noch-schlimmer zusammendenken - mit dem Befund, daß im Iran, aber auch anderswo auf der Welt, nach revolutionären und  emanzipatorischen Anstrengung (oft) „alles noch schlimmer“ wurde?

Wie im Iran begann das zwanzigste Jahrhundert – Stichwort Oktoberrevolution - für Millionen von Menschen in Europa und Amerika, und nicht nur dort, mit großen Hoffnungen auf umfassende gesellschaftliche Emanzipation. Im Rückblick erscheint uns dieses zwanzigste Jahrhundert aber eher als ein Jahrhundert der Katastrophen und der Barbarei - als eines der gesellschaftlichen und politischen Emanzipation.

Dennoch: Auch der Durchschnittsbürger in Amerika und in Europa erfreut sich natürlich zu Beginn des 21. Jahrhunderts einer ungleich besseren Lebensqualität und eines weit besseren Lebensstandards als dies um 1900 der Fall war. Und der Widerspruch zwischen diesen beiden Tendenzen - zwischen all den Fortschritten und dem Noch-schlimmer als Resultat der großen Revolutionen und Emanzipationsbewegungen, läßt sich durch das – augenscheinlich falsche  - Klischee, Fortschritte gäbe es bloß in naturwissenschaftlich-technologischer Hinsicht, gesellschaftspolitisch gäbe es aber nur Stagnation und Rückschritte, nicht auflösen.

Aber warum soll uns das alles überhaupt interessieren? Sollten wir solche Überlegungen nicht den Geschichtsphilosophen überlassen – falls es solche noch geben sollte? Oder älteren Damen, die beim Kaffeekränzchen – falls es solche noch geben sollte - von den guten alten Zeiten schwärmen – gleichsam das Gegenstück zum Geschichtsoptimismus meines Freundes?

Sollten wir nicht. Heute, hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, werden wieder einmal grundlegende zivilisatorische Normen über Bord geworfen. In den 1930ern gingen junge Menschen aus aller Welt nach Spanien, um dort gegen die - von Mussolini und Hitler unterstützen - Faschisten zu kämpfen. Heute gehen junge Menschen aus aller Welt in den Irak und nach Syrien, um in einem Religionskrieg Andersgläubige abzuschlachten, und deren Heiligtümer zu zerstören. Als Religionskrieg zwischen „Juden“ und „Moslems“ nehmen wir auch den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern wahr – längst nicht mehr als Krieg zwischen dem israelischen und dem palästinensischen Nationalismus. In Europa hingegen ist die Wiederkehr des Nationalismus nach dem Zerfall der Sowjetunion - jenes Nationalismus, der uns im Rückblick und angesichts der Konfessionalisierung des Nahostkonflikts, als „fortschrittlich“ erscheint - mit Prozessen des zivilisatorischen Rückschritts verbunden: Im Jugoslawienkrieg der 90er Jahre, so wie heute im Konflikt um die Ukraine.

Vor dem Hintergrund dieser Kriege und Krisen drängt sich die totgesagte Geschichtsphilosophie wieder auf - und stellt  Fragen. Zum Beispiel ob wir, wieder einmal, Zeugen einer Umkehr des Zivilisationsprozesses sind. So wie es laut unseren Schulbüchern beim Übergang von der Spätantike ins Frühmittelalter der Fall war.

wird fortgesetzt



sowie

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