„Da muß ich
widersprechen“, sagt der Lösungsorientierte, „die Analysandin hat ein massives Zeitproblem beim Kreativsex.
Sie kommt nicht unpünktlich - sie kommt überhaupt nicht.“
„Eine
treffende Formulierung“, sagt die Theoretikerin nach Abklingen des allgemeinen Gelächters,
„Hier ist die Verweigerung kompromißlos. Sie kommt überhaupt nicht. Warum? Weil
ihr Mann ihr die Verwirklichung ihrer ureiegnesten sexuellen Phantasien und
Wünsche ermöglichen will. Der ‚Normalsex’ war nicht die Offenbarung. Aber, so absurd
das klingen mag: Die Analysandin lief dabei nicht Gefahr, ihre Wünsche zu
verwirklichen. Und die Distanz zwischen
den sexuellen Normen ‚dort draußen’ und den Wünschen ‚da drinnen’ zu verlieren.
In einer durch
und durch vom Leistungsprinzip beherrschten Welt ist jede Wirklichkeit den
Anforderungen der Arbeit nachempfunden - und jeder Wunsch, der Wirklichkeit wird, jenen Arbeits-Anforderungen
ausgeliefert. Der Verweigerungsimpuls, den die Verwirklichung ihrer Wünsche regelmäßig
bei der Analysandin auslöst, ist - so betrachtet - ganz folgerichtig.
Für das Zeitproblem
in der Analyse gilt das noch in einem
spezifischeren Sinn: Die Psychoanalyse ist nicht bloß ein Segment der
gesellschaftlichen Wirklichkeit, welches - indem sie die Wiederherstellung der
Arbeitskraft der Analysanden betreibt
- der Arbeit zuarbeitet. Psychoanalyse
ist Arbeit. Und weil sie Arbeit ist -
real, nicht bloß im Sinne der Übertragung - können die Leistungsanforderungen
und Identifizierungs-Gebote, die unsere Gesellschaft beherrschen, am
‚Arbeitsplatz Psychoanalyse’ bei ihrer Entstehung beobachtet und bewußt gemacht
werden. Und - von wegen Identifizierungs-Gebot: Auch unser Kollege“, die
Theoretikerin macht eine Kopfbewegung in Richtung unseres Analytikers, „macht nicht
einfach nur seinen Job. Wie wir alle, ist auch er mit seiner Arbeit identifiziert,
und bezieht daraus seine Selbstachtung. Das Zeitproblem der Analysandin ist
daher auch für ihn ein Problem. Es kränkt ihn.“
„Gut“, sagt
der Lösungsorientierte „Danke. Aber - was machen wir mit der Analysandin?“
„Falsche
Frage“, sagt die Theoretikerin, „daß Sie ‚machen’
sagen, zeigt, wie sehr Sie, wie wir alle, mit jenen Arbeitsanforderungen
identifiziert sind. Arbeitsanforderung
ist übrigens ein Begriff, den Freud verwendet, um den ‚Trieb’ zu erklären. Aber
lassen wir das. Wir sind beim Zeitproblem der Analysandin mit einem gesellschaftlichen Problem konfrontiert –
Freud hätte gesagt, mit einem Problem der Kultur. Ohne eine kritische Theorie
der Gesellschaft, der Arbeit, der Familie – vor allem aber der gesellschaftlichen Dimension des Unbewussten, ohne Kulturtheorie und Kulturkritik also, ist eine Analyse, die diesen Namen verdient, nicht möglich. Weder bei unserer noch bei anderen Analysanden.
Freud sei,
sagt Adorno, ‚in den innersten psychologischen Zellen auf Gesellschaftliches
gestoßen’.
Nun ist aber nicht
nur die Psychoanalyse - stets - mit
gesellschaftlichen Problemen konfrontiert, auch die Gesellschaft sollte ihre
Probleme mit der Psychoanalyse konfrontieren.
Warum es
Antisemitismus gibt, wie der Faschismus die Massen dazu bewegt, nicht nur ihre Unterdrückung sondern auch ihren
Untergang zu begehren, warum sie – die Massen - heute Parteien wählen, deren
Politik ihren Interessen diametral entgegengesetzt ist - und warum wir uns umso
mehr ausbeuten lassen, je mehr wir mit unserer Arbeit identifiziert sind –
diese und andere gesellschaftliche Rätsel, lassen sich ohne Psychoanalyse nicht
lösen.
Dem Prozeß der
Psychoanalyse als solchem ist es um
Gesellschaft zu tun. Nicht nur um der gesellschaftlichen Dimension des
Unbewußten - sondern auch um der unbewußten
Dimension der Gesellschaft, ohne
deren Berücksichtigung gesellschaftliche Emanzipation zum Scheitern verurteilt ist
– oder aber in Katastrophen mündet.
Die
Psychoanalyse von der wir reden, ist nicht die real existierende. Die Rede ist vielmehr
von einer Psychoanalyse, die sich nicht bloß auf ihre kulturkritische, sprich
gesellschafskritische Tradition besinnt – als auf einen von der Klinik getrennten
Teilaspekt - sondern eine Psychoanalyse die in
der analytischen Behandlung dem Analysanden und seinem Unbewußten nicht therapeutisch
begegnet, sondern kulturkritisch.“
Ende
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