Samstag, 27. Juni 2015

Tolerieren, Respektieren, Glauben. Warum wir glauben – und es nicht wissen (7)


Lucas Cranach der Jüngere: Porträt Martin Luthers, 1555
„Persönliche Unabhängigkeit“ scheint also heute nicht mehr bloß auf sachliche, sondern paradoxerweise auch auf seelische Abhängigkeit gegründet. Diese seelische Abhängigkeit wird von den Subjekten allerdings selbst begehrt: Identifikation mit der Arbeit ist ja nicht bloß eine vom Arbeitgeber an die Adresse „seiner“ Arbeitskräfte gerichtete Erwartung. Mehr und mehr Zeitgenossen erscheint die Identifikation mit der Arbeit - sprich: die Selbstverwirklichung im Beruf - als höchstes Lebensziel.

„Beruf“ kommt von „Berufung“. Ein Begriff, den Luther aus der exklusiven Verknüpfung mit Priesterschaft und Mönchtum löste, und auf alle Gläubigen ausweitete. Sein vom Konzept der „Berufung“ abgeleiteter Begriff von „Beruf“ basiert auf dem Gedanken von der religiösen Bedeutung der weltlichen Arbeit.

„Unbedingt neu“, schreibt Max Weber über Luthers Berufskonzeption, „war jedenfalls [...] die Schätzung der Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als des höchsten Inhalts, den die sittliche Selbstbetätigung [...] annehmen könne. Dies war es, was die Vorstellung von der religiösen Bedeutung der weltlichen Alltagsarbeit zur unvermeidlichen Folge hatte und den Berufsbegriff in diesem Sinn erstmals erzeugte. Es kommt also in dem Begriff ‚Beruf’ jenes Zentraldogma [...] zum Ausdruck, welches als das einzige Mittel, Gott wohlgefällig zu leben, [...] die Erfüllung der innerweltlichen Pflichten kennt, wie sie sich aus der Lebensstellung des einzelnen ergeben, die dadurch eben sein ‚Beruf’ wird [Hervorhebungen von mir].“1

Wenn „Berufung“ bedeutet, daß jemand, einem „inneren Ruf“ folgend, sein Leben einer Sache widmet, in dieser Sache also aufgeht, dann entspricht dies exakt dem heute weit verbreiteten Anspruch, sich mit seiner Arbeit zu identifizieren, dem Wunsch, „sein Selbst“ in ihr zu „verwirklichen“.

In diesem Sinne sind mit ihrer Arbeit identifizierte Zeitgenossen Berufene im Luther’schen Verständnis. Mit dem Unterschied aber, daß für sie der Beruf kein Mittel ist, um gottgefällig zu leben – sondern Selbstzweck. Die Arbeit als solche ist ihnen heilig. Oder noch einmal anders: Mit ihrer Arbeit identifizierte Subjekte glauben an ihre Arbeit. Und beziehen aus diesem ihren Glauben Selbstachtung.

wird fortgesetzt 

1 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, München 2010, S. 97

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