Paul Klee: Tief im Wald, 1939
„Das wünschst Du?“, sagt die Frau, von der ich sagte: „Hätte es nicht sein können, daß ich, sobald ich aus der Fahne heraus war, statt jener Frau drei Männern begegnet wäre (den Brüdern), die mich gefragt hätten: ‚ Alles in Ordnung?‘“
„Immer fragst Du“, sage ich, obwohl ich sie überhaupt nicht kenne (aber was heißt Kennen?), wir haben das Zentrum der Provinzstadt verlassen, und sind mitten im Wald, der mitten im Zentrum beginnt, und in das Hinterland der Provinzstadt hinausreicht. Oder beginnt (umgekehrt) der Wald in der Tiefe des Hinterlands der Provinzstadt, und reicht bis in dessen Herz?
Ich nenne die Frau für mich die Verrückte, weil sie mich nervt und verrückt ist. Rasch wie sie geht, habe ich Angst, sie zu verlieren. „Bleib“, rufe ich.
Eigentlich hätte ich der Frau gar nicht begegnen können, da ich ja schon den Brüdern begegnet bin. Die Begegnung mit der Frau und die Begegnung mit den Brüdern schließen sich aus. Die Frau befindet sich im Fall der Begegnung mit den Brüdern – und die Brüder im Fall der Begegnung mit der Fau - außerhalb der Ordnung der Zeit.
Als ich „Bleib“ sage, schaut sie zurück: „Ich hatte einmal einen Teheraner. Der hat mich getötet.“ „So sind sie“, sage ich, wir lachen, und obwohl ich keine einzige Erinnerung mehr an Teheran habe, weiß ich, daß ich schuld bin.
Ende
Dienstag, 1. Mai 2012
Samstag, 28. April 2012
Wunderland 42
"Ja", sagte der Feine. "Als ich ... mit dem Mädchen, in der Villa von Sam, ich meine mit dem Mann ... da lief ein Video. Irgendwo im Zimmer stand ein Fernsehgerät, ich konnte es nicht sehen, aber ich hörte die Stimmen. Als ich das Mädchen, ich meine den Mann ... lief die ganze Zeit dieser dämliche Film."
Während der Feine diese seine letzten Worte sagte, beobachtete ich den Jungen. Dessen Augen blitzten, als der Feine in der Villa von Sam sagte. Dann schloß er sie.
„Ein scharfes Messer“, sagte er, zu der Kellnerin, die mich - blond, wie gesagt, und ein wenig drall - an eine Isabella erinnerte. Sie hatte sich, während der Feine diese seine letzten Worte gesagt hatte, auf den Tisch zubewegt, und stand hinter dem Jungen, so daß er sie, zumal mit geschlossenen Augen, nicht wahrgenommen haben konnte.
Die Kellnerin nickte - und war sofort wieder da, während ihrer Abwesenheit hatte keiner etwas zu sagen, und legte das Messer auf den Tisch. Ich kannte das Messer. Natürlich. Es war das Messer, das japanische Messer, das die Eltern aus Japan mitgebracht hatten, und das die Mutter Mein bestes Stück genannt hatte.
Was jetzt passiert, soll schnell passieren. Ich hatte einmal ein Krimi gelesen. Auf Deutsch natürlich, die Sprache Teherans habe ich vergesssen, ich sagte es schon, d.h. nicht ich habe den Krimi gelesen, sondern ein Freund, ein Schräger, von dem sie sagen, er hatte nie eine Frau. Nicht, daß er nicht gewollt hätte. Mein Freund hat mir wiederholt die Schlußszene jenes Krimis erzählt. Die Geliebte eines Kommissars, oder Detektivs, erweist sich als Verbrecherin. Er muß sie totschießen, und während er sie totschießt, spricht er mit ihr. Der Schlußsatz des Krimis, den der Schräge, wie einen heiligen Text, immer wieder wiederholte, lautete: Es dauerte Sekunden bis er zu einer Leiche sprach.
So soll es sein. D.h. Nein. Eben nicht. Nur das Messer soll sein, das japanische, auf dem Tisch der Deutschsprachigen Gemütlichkeit, das die Eltern aus Japan mitgebracht haben. Dann die Leiche. Ohne Übergänge. Das Messer, die Leiche - die Zeit dazwischen aber nicht.
„Das wünschst Du Dir?“, sagte das Frauengesicht, von der ich sagte: „Aber hätte es nicht sein können, daß ich, sobald ich aus der Fahne heraus war, statt jenem Frauengesicht drei Männern begegnet wäre - den Brüdern -, die mich gefragt hätten: ‚Ist alles in Ordnung?‘“
wird fortgesetzt
Donnerstag, 26. April 2012
Wunderland 41
„Es dauerte lange bis ich unser Namenschild fand, so kam es mir jedenfalls vor, obwohl ich das Gefühl hatte - oder gerade weil -, ich befände mich außerhalb der Zeit.“
Der Junge wandte sich an mich, „Auf unserem Namensschild stand unser Nachname“, der Junge nannte einen Teheraner Namen, „dann der Name der Mutter“, der Junge nannte wieder einen Teheraner Namen „dann der Name des Vaters.“ Jetzt nannte der Junge einen Namen, den ich erinnere: Kaveh. Kaveh ging mir nach meinem Aufenthalt in jener Provinzstadt nicht aus dem Kopf, ich weiß nicht warum, im Internet fand ich den folgenden Eintrag:
'Kaveh, der Schmied, eine Gestalt der Teheraner Mythologie. Der Sage nach soll er den Aufstand gegen den grausamen arabischen Fürsten Hamadom angeführt haben. Die Geschichte des Aufstands wurde im Buch der Elefanten verewigt. Kaveh benutzte seine Schmiedeschürze als Flagge des Aufstands.
Das Schurzfell, womit sich die Füße decken
Die Schmiede, wenn sie das Eisen strecken,
Das steckte der Kav' auf ein Lanzenrohr,
Da stieg vom Markte der Staub empor ...'
„Als ich läuten wollte“, sagte der Junge „bemerkte ich, daß der Name der Mutter auf dem Namensschild durchgestrichen war“.
In der Deutschsprachigen Gemütlichkeit war es still, der Junge sah den Feinen an, dann den Groben, ganz still aber nicht - es gab vereinzelt Geräusche, als befände sich auch die Deutschsprachige Gemütlichkeit außerhalb der Zeit, wie die Straße des Jungen.
Die Stille war mir peinlich und wurde umso peinlicher, je länger sie anhielt. Auf einmal fiel mir meine Frage über Teheran ein.
„Ich erinnere mich“, sagte ich - an Teheran.“
Der Feine sah mich wie aufmunternd an, wie man ein Kind aufmunternd anschaut, hätte ich vorhin etwas derartiges gesagt, auf der Straße, wäre es nicht der Feine gewesen, der mich wie aufmunternd angeschaut hätte, sondern der Junge, aber dieses vorhin schien nicht Stunden her, sondern Jahre.
„Ich erinnere mich“, sagte ich, „an Teheran. D.h. ich erinnere mich nicht. In den 70er Jahren gab es eine Fernehserie, aus Amerika, Sarsamine Ajayeb“, die einzigen Worte der Sprache Teherans übrigens, die ich erinnere, das S am Anfang von Sarsamin ist stimmlos, das in der Mitte stimmhaft, das A am Anfang von Ajayeb ist hell, das in der Mitte dunkel. Sarsamine Ajayeb: Wunderland.
„Wir haben keine Fernsehserien aus Amerika geschaut“, sagte der Feine, wie stellvertretend für seine Brüder. Wie der Grobe und der Feine, während der Junge gesprochen hatte, in Trance versunken schienen, erschienen mir jetzt, während der Feine sprach, der Grobe und der Junge erstarrt.
„Eigentlich kann ich mich nur an eine - einzige - Folge erinnern, d.h. an einen Teil einer Folge, aber dieser Teil einer Folge geht mir nicht aus dem Kopf. Ich möchte wissen, wie sie weitergeht.“
Ich wunderte mich über mich, daß ich meine Frage endlich gestellt hatte. Und ausgerechnet während des peinlichen Schweigens. Aber warum es überhaupt des Mutes bedurft haben sollte, eine solche Frage zu stellen, war mir nicht klar.
„Soweit ich mich erinnere“, sagte ich, „ist Wunderland die Geschichte eines Raumschiffs, das sich im Weltall verirrt, und auf einem Planeten landet, dessen Bewohner Riesen sind, wie die Bewohner von Brobdingnag in Gullivers Reisen. Wunderland heißt im Original Land of the Giants.
In der Folge, an die ich mich erinnere, resp. nicht erinnere, entdecken die Besatzungmitglieder jenes Raumschiffs eine verlassene Stadt, im Maßtab einer Stadt der Erde. Die Stadt ist eine Spielzeugstadt, die ein alter Mann, ein Riese, gebaut hat. Der Alte lädt die Erdenbewohner ein, seine Spielzeugstadt zu bewohnen, aber seine Enkelin quält unsere Helden und will sie töten. Mehr erinnere ich nicht. Ich wollte fragen, ob Ihr wißt, wie die Folge weitergeht. Aber wenn Ihr sagt, daß Ihr keine amerikanischen Serien geschaut habt -“
„Moment“, sagte der Feine, „diese Folge habe ich … wie hieß die Serie?“
„Wunderland“, sagte ich.
„Ja.“ sagte er. „Als ich ... mit dem Mädchen, in der Villa von Sam, ich meine mit dem Mann … da lief ein Video. Irgendwo in dem Zimmer stand ein Fernsehgerät, ich konnte es nicht sehen, aber ich hörte die Stimmen. Als ich das Mädchen, ich meine den Mann … lief die ganze Zeit dieser dämliche
Film.“
wird fortgesetzt
Der Junge wandte sich an mich, „Auf unserem Namensschild stand unser Nachname“, der Junge nannte einen Teheraner Namen, „dann der Name der Mutter“, der Junge nannte wieder einen Teheraner Namen „dann der Name des Vaters.“ Jetzt nannte der Junge einen Namen, den ich erinnere: Kaveh. Kaveh ging mir nach meinem Aufenthalt in jener Provinzstadt nicht aus dem Kopf, ich weiß nicht warum, im Internet fand ich den folgenden Eintrag:
'Kaveh, der Schmied, eine Gestalt der Teheraner Mythologie. Der Sage nach soll er den Aufstand gegen den grausamen arabischen Fürsten Hamadom angeführt haben. Die Geschichte des Aufstands wurde im Buch der Elefanten verewigt. Kaveh benutzte seine Schmiedeschürze als Flagge des Aufstands.
Das Schurzfell, womit sich die Füße decken
Die Schmiede, wenn sie das Eisen strecken,
Das steckte der Kav' auf ein Lanzenrohr,
Da stieg vom Markte der Staub empor ...'
„Als ich läuten wollte“, sagte der Junge „bemerkte ich, daß der Name der Mutter auf dem Namensschild durchgestrichen war“.
In der Deutschsprachigen Gemütlichkeit war es still, der Junge sah den Feinen an, dann den Groben, ganz still aber nicht - es gab vereinzelt Geräusche, als befände sich auch die Deutschsprachige Gemütlichkeit außerhalb der Zeit, wie die Straße des Jungen.
Die Stille war mir peinlich und wurde umso peinlicher, je länger sie anhielt. Auf einmal fiel mir meine Frage über Teheran ein.
„Ich erinnere mich“, sagte ich - an Teheran.“
Der Feine sah mich wie aufmunternd an, wie man ein Kind aufmunternd anschaut, hätte ich vorhin etwas derartiges gesagt, auf der Straße, wäre es nicht der Feine gewesen, der mich wie aufmunternd angeschaut hätte, sondern der Junge, aber dieses vorhin schien nicht Stunden her, sondern Jahre.
„Ich erinnere mich“, sagte ich, „an Teheran. D.h. ich erinnere mich nicht. In den 70er Jahren gab es eine Fernehserie, aus Amerika, Sarsamine Ajayeb“, die einzigen Worte der Sprache Teherans übrigens, die ich erinnere, das S am Anfang von Sarsamin ist stimmlos, das in der Mitte stimmhaft, das A am Anfang von Ajayeb ist hell, das in der Mitte dunkel. Sarsamine Ajayeb: Wunderland.
„Wir haben keine Fernsehserien aus Amerika geschaut“, sagte der Feine, wie stellvertretend für seine Brüder. Wie der Grobe und der Feine, während der Junge gesprochen hatte, in Trance versunken schienen, erschienen mir jetzt, während der Feine sprach, der Grobe und der Junge erstarrt.
„Eigentlich kann ich mich nur an eine - einzige - Folge erinnern, d.h. an einen Teil einer Folge, aber dieser Teil einer Folge geht mir nicht aus dem Kopf. Ich möchte wissen, wie sie weitergeht.“
Ich wunderte mich über mich, daß ich meine Frage endlich gestellt hatte. Und ausgerechnet während des peinlichen Schweigens. Aber warum es überhaupt des Mutes bedurft haben sollte, eine solche Frage zu stellen, war mir nicht klar.
„Soweit ich mich erinnere“, sagte ich, „ist Wunderland die Geschichte eines Raumschiffs, das sich im Weltall verirrt, und auf einem Planeten landet, dessen Bewohner Riesen sind, wie die Bewohner von Brobdingnag in Gullivers Reisen. Wunderland heißt im Original Land of the Giants.
In der Folge, an die ich mich erinnere, resp. nicht erinnere, entdecken die Besatzungmitglieder jenes Raumschiffs eine verlassene Stadt, im Maßtab einer Stadt der Erde. Die Stadt ist eine Spielzeugstadt, die ein alter Mann, ein Riese, gebaut hat. Der Alte lädt die Erdenbewohner ein, seine Spielzeugstadt zu bewohnen, aber seine Enkelin quält unsere Helden und will sie töten. Mehr erinnere ich nicht. Ich wollte fragen, ob Ihr wißt, wie die Folge weitergeht. Aber wenn Ihr sagt, daß Ihr keine amerikanischen Serien geschaut habt -“
„Moment“, sagte der Feine, „diese Folge habe ich … wie hieß die Serie?“
„Wunderland“, sagte ich.
„Ja.“ sagte er. „Als ich ... mit dem Mädchen, in der Villa von Sam, ich meine mit dem Mann … da lief ein Video. Irgendwo in dem Zimmer stand ein Fernsehgerät, ich konnte es nicht sehen, aber ich hörte die Stimmen. Als ich das Mädchen, ich meine den Mann … lief die ganze Zeit dieser dämliche
Film.“
wird fortgesetzt
Sonntag, 15. April 2012
Wunderland 40

Als Kind hatte ich auf Anregung unserer Mutter eine aus dem Amerikanischen in die Sprache Teherans übersetzte Erzählung gelesen: Zwanzig Jahre unter dem Bett. Die Handlung hatte ich schon damals, als ich aus dem Modesalon flüchtete, fast vergessen, ich erinnere mich nur an einen Jungen, dessen Eltern am Abend fortgehen, er bleibt mit seinen Geschwistern alleine zuhause, sie streiten - die Geschwister sind älter - und der Junge verkriecht sich einem Zimmer des weitläufigen Hauses, unter dem Bett einer schlafenden Oma oder Tante, ich weiß es nicht mehr, und wartet bis die Eltern zurückkommen, um ihn zu befreien, er wartet, und das Warten erscheint ihm unendlich - Zwanzig Jahre unter dem Bett.
Ohne es angesteuert zu haben, stand ich auf einmal vor dem Tor unseres Hauses. Ich erschrack. Ich hatte unsere Straße nicht wiedererkannt. Ich sage Straße, aber hier, in den Deutschsprachigen Bergen, hätte man zu unserer Straße Gasse gesagt, eine Sackgasse, am Ende eine Ziegelsteinmauer, und dahinter ein Garten mit Zypressen und hohen Platanen. Die Mauer gab es nicht mehr. Wo der Garten gewesen war, standen, statt den Zypressen und den hohen Platanen, Baumaschinen und Kräne, dicht aneinander gedrängt, auf unserer Straße standen ebenfalls Baumaschinen und Kräne, aber hintereinander, und bildeten eine Schlange.
Obwohl unsere Straße, und das Gelände, auf dem sich der Garten befunden hatte, jetzt eine Baustelle waren, war es in unserer Straße ganz still, im Unterschied zu den lauten und lebendigen Straßen, die ich wie ein Schlafwandler auf dem Weg vom Modesalon zu unserer Straße zurückgelegt hatte. Die Baustelle war verlassen. Die Baumaschinen wirkten wie Teile einer gigantomanen Installation eines Teheraner Künstlers oder wie Abbilder von vielen - trotz ihres Aneinander-Gedräntseins - einsamen Göttern. Weder Bauarbeiter noch Passanten waren zu sehen, und wenn ich mich richtig erinnere, sah ich nicht einmal parkende Autos. Ganz still stimmt aber nicht. Es gab vereinzelt Geräusche, die mir - als ich unseren Namen auf der Gegensprechanlage suchte, als sei ich ein Fremder - rhythmisch erschienen, wie das Ticken einer Uhr.
Dennoch hatte ich das Gefühl, ich befände mich außerhalb jeder Zeit, und die Stille zwischen den Ticks sei die Stille eines aus der Ordnung der Zeit gefallenen Ortes.“
wird fortgesetzt
Samstag, 31. März 2012
Wunderland 39

Als ich dem Militärschneider gesagt hatte, ich bin part of the game, hatte ich beschlossen, zu fliehen - genauer gesagt, war zuerst der Entschluß gekommen, dann das part of the game.
Ich war - um meine Familie vor den Repressalien der religiösen Faschisten zu
schützen -, bereit gewesen, bei ihrem Mädchen-Projekt mitzumachen. Vielleicht hatten mich auch die Argumente der Professorin und Teheraner Feministin überzeugt, die Religion Teherans sei in der Lage, sich selbst auszutricksen, und ich hatte die Mädchenweihe als Beitrag betrachtet, das Problem der Männerliebe in Teheran zu lösen.
Was aber der Militärschneider verlangt hatte, ging mir zu weit. Ich mochte Paskarani weder als Schaupieler noch als Sänger, aber mich von ihm, im Auftrag der religiösen Faschisten, ficken zu lassen, um ihn zu kompromittieren, konnte ich nicht.
Ich beschloß zu meinen Eltern, und dann - zusammen mit ihnen - aus Teheran zu flüchten. Um meine Brüder machte ich mir keine Sorgen. Einer war ja im Untergrund, und der andere, wenn ich mich richtig erinnere, aber ich mir nicht sicher, war, kurz bevor sie mich in das Lager verschleppt hatten, zum Studium in die Deutschsprachigen Berge gegangen“, der Junge sprach über seine Brüder als wären sie nicht da, tatsächlich wirkten die Brüder, regungslos und mit starren Gesichtern, wie abwesend.
"Beim Ausziehen meiner vollgekotzten Kleider wurde mir klar, daß sich eine Gelegenheit zur Flucht so schnell nicht wieder ergeben würde, wenn überhaupt je, anders als das Lager, konnten wir das Militärgebäude nicht einfach verlassen.
Ich mußte mich beeilen – jeden Augenblick konnte jemand kommen und nach meinem Befinden fragen“, der Junge wandte sich an mich, „Wie Sie wissen, ist man in Teheran höflich. Und freundlich. Vielleicht wissen Sie auch, daß einem die Höflichkeit, und die Freundlichkeit, der Teheraner nerven kann – deshalb bin ich eigentlich froh, in den Deutschsprachigen Bergen zu sein. Über die Deutschsprachigen Berge kann man sagen, was immer man will, aber daß sie einen hier mit ihrer Höflichkeit und ihrer Freundlichkeit nerven, kann man nicht sagen.
Da mein T-Shirt, meine Hose und meine Unterhose, voll waren, nur die Turnschuhe hatte ich verschont, und ich nackt nicht flüchten konnte, mußte ich eines der Mädchen-Uniformen nehmen. Ich nahm einen grünbraunen Offiziersmantel . Eine Hose fand sich weder auf der Stange, noch sonst wo im Zimmer, unter dem eleganten Offiziersmantel war ich nackt“.
Ich beschloß zu meinen Eltern, und dann - zusammen mit ihnen - aus Teheran zu flüchten. Um meine Brüder machte ich mir keine Sorgen. Einer war ja im Untergrund, und der andere, wenn ich mich richtig erinnere, aber ich mir nicht sicher, war, kurz bevor sie mich in das Lager verschleppt hatten, zum Studium in die Deutschsprachigen Berge gegangen“, der Junge sprach über seine Brüder als wären sie nicht da, tatsächlich wirkten die Brüder, regungslos und mit starren Gesichtern, wie abwesend.
"Beim Ausziehen meiner vollgekotzten Kleider wurde mir klar, daß sich eine Gelegenheit zur Flucht so schnell nicht wieder ergeben würde, wenn überhaupt je, anders als das Lager, konnten wir das Militärgebäude nicht einfach verlassen.
Ich mußte mich beeilen – jeden Augenblick konnte jemand kommen und nach meinem Befinden fragen“, der Junge wandte sich an mich, „Wie Sie wissen, ist man in Teheran höflich. Und freundlich. Vielleicht wissen Sie auch, daß einem die Höflichkeit, und die Freundlichkeit, der Teheraner nerven kann – deshalb bin ich eigentlich froh, in den Deutschsprachigen Bergen zu sein. Über die Deutschsprachigen Berge kann man sagen, was immer man will, aber daß sie einen hier mit ihrer Höflichkeit und ihrer Freundlichkeit nerven, kann man nicht sagen.
Da mein T-Shirt, meine Hose und meine Unterhose, voll waren, nur die Turnschuhe hatte ich verschont, und ich nackt nicht flüchten konnte, mußte ich eines der Mädchen-Uniformen nehmen. Ich nahm einen grünbraunen Offiziersmantel . Eine Hose fand sich weder auf der Stange, noch sonst wo im Zimmer, unter dem eleganten Offiziersmantel war ich nackt“.
„Hinter der Rollgarderobe befand sich ein Vorhang, den ich beiseite schob. Dahinter gab ein breites und hohes Fenster den Blick auf eine Parklandschaft frei. Ich suchte nach einer Vorrichtung, um das Fenster zu öffnen - vergeblich. Da sah ich, in einer Ecke des Zimmers, ein Fernsehgerät, ich hob es auf, es kam mir leicht vor, und schlug die Fensterscheibe ein. Das Zerbrechen der Scheibe klang wie das Rascheln von Seidenpapier, ich betrat einen sonnigen Tag, und spazierte durch den Park oder den Garten, oder was immer es war, ganz entspannt, als sei ich nicht auf der Flucht vor den religiösen Faschisten, sondern ein Flaneur in einem Park in Paris.“
wird fortgesetzt
Donnerstag, 29. März 2012
Wunderland 38

Die Kollektion Hinterland
„Ich soll Euch also helfen, sagte ich, daß in der Gesellschaft Teherans was weitergeht, indem ich mich von Paskarani ficken, und von Euch filmen lasse. Der Militärschneider schüttelte den Kopf, wie erschüttert, und schloß die Augen, als sei die Idee, Paskarani zu kompromittieren, nicht von ihm gekommen, sondern von mir.
Ich wollte aufstehen, oder ich sollte, und das Atelier des Militärschneiders verlassen, aber ich war auf einmal ganz ruhig. Ich bin, sagte ich, part of the game. Der Militärschneider strahlte, stand auf und umarmte mich fest und väterlich, und geleitete mich zur Tür.
Einer, der für uns zuständig war, betrat am Tag nach jenem Gespräch den Unterrichtssaal - wir hatten Konversationsunterricht, man brachte uns bei, das Interesse der Männer zu erregen, ohne vulgär zu erscheinen. Der Zuständige meinte, daß wir uns bereithalten sollten, am Nachmittag würde man uns zur Anprobe unserer Uniformen in eine Scheiderei bringen.
Die Schneiderei war ein Modesalon in Nord-Teheran, unendlich feiner als das ohnehin schon feine Atelier des Militärschneiders. Man brachte uns in eine Halle, wo eine Modeschau stattfand. Mannequinns, die aussahen, und sich bewegten, als sei der Kaiser noch an der Macht, trugen schwarze T-Shirts und Röcke, die Röcke sahen aus der Entfernung alle gleich aus, tatsächlich war aber jeder Rock mit einer anderen, ländlichen Ansicht der Deutschsprachigen Berge bedruckt - Äcker, Heuballen, Vogelscheuchen, Bauernmädchen und –jungen. Die Kollektion nannte sich Hinterland.
Wie wunderten wir uns, daß die Präsentation einer solchen Kollektion in der klerikalen Republik möglich sein konnte. Außer uns ‚Mädchen‘ und zwei hochgewachsenen Inhaberinnen des Modesalons, die wie Schwestern aussahen, befand sich noch ein Kamerateam in der Halle. Unsere Verwunderung wurde größer, als es hieß, es handle sich um ein Kamerateam des Zweiten Kanals des Teheraner Fernsehens, und die Modeschau würde tags darauf vom Teheraner Rundfunk gesendet.
Wie ist das möglich?, wagte ich, eine der hochgewachsenen Schwestern zu fragen. Sie schaute mich an, irritiert und womöglich verärgert: Im Fernsehen wird man nur Röcke sehen, die über den Laufsteg laufen. Daher - damit den Zusehern nicht langweilig wird - die ländlichen Motive auf den Röcken.
Ich versuchte, mir die ländlichen Röcke ohne die Mädchen vorzustellen, das schaffte ich nicht, den Versuch aufzugeben, schaffte ich auch nicht. Statt die Röcke ohne die Mädchen, sah ich die Mädchen am Ende vor meinem geistigen Auge ohne die Röcke, und mußte mich schämen.
Während des Versuches, die Röcke vor meinem geistigen Auge ohne die Mädchen zu sehen, spürte ich einen Schmerz in der Gegend des Magens, der größer wurde, man brachte mich in ein spärlich beleuchtetes Zimmer, und legte mich auf eine Couch. Ich übergab mich, sobald ich allein war. Die Couch, und meine Hose und mein T-Shirt, waren voll, ich mußte mich ausziehen. Gegenüber der Couch stand eine Rollgarderobe, auf deren Stange elegante, taillierte Offiziersmäntel hingen, mit goldenen Knöpfen, und Krägen aus kurz geschorenem Pelz. Daneben hatte man, auf einer Holzbank, ein Dutzend Pelzbaretts aufgestellt. Es waren unsere Mädchenuniformen.
wird fortgesetzt
Ich wollte aufstehen, oder ich sollte, und das Atelier des Militärschneiders verlassen, aber ich war auf einmal ganz ruhig. Ich bin, sagte ich, part of the game. Der Militärschneider strahlte, stand auf und umarmte mich fest und väterlich, und geleitete mich zur Tür.
Einer, der für uns zuständig war, betrat am Tag nach jenem Gespräch den Unterrichtssaal - wir hatten Konversationsunterricht, man brachte uns bei, das Interesse der Männer zu erregen, ohne vulgär zu erscheinen. Der Zuständige meinte, daß wir uns bereithalten sollten, am Nachmittag würde man uns zur Anprobe unserer Uniformen in eine Scheiderei bringen.
Die Schneiderei war ein Modesalon in Nord-Teheran, unendlich feiner als das ohnehin schon feine Atelier des Militärschneiders. Man brachte uns in eine Halle, wo eine Modeschau stattfand. Mannequinns, die aussahen, und sich bewegten, als sei der Kaiser noch an der Macht, trugen schwarze T-Shirts und Röcke, die Röcke sahen aus der Entfernung alle gleich aus, tatsächlich war aber jeder Rock mit einer anderen, ländlichen Ansicht der Deutschsprachigen Berge bedruckt - Äcker, Heuballen, Vogelscheuchen, Bauernmädchen und –jungen. Die Kollektion nannte sich Hinterland.
Wie wunderten wir uns, daß die Präsentation einer solchen Kollektion in der klerikalen Republik möglich sein konnte. Außer uns ‚Mädchen‘ und zwei hochgewachsenen Inhaberinnen des Modesalons, die wie Schwestern aussahen, befand sich noch ein Kamerateam in der Halle. Unsere Verwunderung wurde größer, als es hieß, es handle sich um ein Kamerateam des Zweiten Kanals des Teheraner Fernsehens, und die Modeschau würde tags darauf vom Teheraner Rundfunk gesendet.
Wie ist das möglich?, wagte ich, eine der hochgewachsenen Schwestern zu fragen. Sie schaute mich an, irritiert und womöglich verärgert: Im Fernsehen wird man nur Röcke sehen, die über den Laufsteg laufen. Daher - damit den Zusehern nicht langweilig wird - die ländlichen Motive auf den Röcken.
Ich versuchte, mir die ländlichen Röcke ohne die Mädchen vorzustellen, das schaffte ich nicht, den Versuch aufzugeben, schaffte ich auch nicht. Statt die Röcke ohne die Mädchen, sah ich die Mädchen am Ende vor meinem geistigen Auge ohne die Röcke, und mußte mich schämen.
Während des Versuches, die Röcke vor meinem geistigen Auge ohne die Mädchen zu sehen, spürte ich einen Schmerz in der Gegend des Magens, der größer wurde, man brachte mich in ein spärlich beleuchtetes Zimmer, und legte mich auf eine Couch. Ich übergab mich, sobald ich allein war. Die Couch, und meine Hose und mein T-Shirt, waren voll, ich mußte mich ausziehen. Gegenüber der Couch stand eine Rollgarderobe, auf deren Stange elegante, taillierte Offiziersmäntel hingen, mit goldenen Knöpfen, und Krägen aus kurz geschorenem Pelz. Daneben hatte man, auf einer Holzbank, ein Dutzend Pelzbaretts aufgestellt. Es waren unsere Mädchenuniformen.
wird fortgesetzt
Freitag, 2. März 2012
Warum wir über den Islam nicht reden können - Vortrag und Diskussion
Helmut Dahmer│Vladimir Vertlib │Sama Maani
Warum wir über den Islam nicht reden können
Wie kommt es, daß wir die Ablehnung des Islams als „rassistisch“ wahrnehmen – nicht jedoch die Ablehnung des Christentums?
Warum sind die Demonstranten des arabischen Frühlings für uns in erster Linie Moslems – die Demonstranten der Occupy-Bewegung in New York aber nicht christlich? Warum reden wir, wenn wir vorgeben über den Islam zu reden, über alles mögliche andere (Terrorismus, Migration, „Integration“) – nur nicht über den Islam? Und: Was hat unser (Nicht-)Reden über den Islam mit unserer eigenen Beziehung zur Religion zu tun?
Drei Vorträge mit anschließender Publikumsdiskussion.
Helmut Dahmer studierte Soziologie und Philosophie bei Helmuth Plessner, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas. In den Jahren 1968-1992 redigierte er die psychoanalytische Monatszeitschrift Psyche. 1984 gehörte er zum Gründungsbeirat des Hamburger Instituts für Sozialforschung. 1974-2002 lehrte er Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Seit 2002 lebt er als freier Publizist in Wien.
Publikationen: Libido und Gesellschaft (1973, 1982); Pseudonatur und Kritik (1994); Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert (2001); Divergenzen (2009); Die unnatürliche Wissenschaft (2012); Interventionen (2012).
Vladimir Vertlib, in Leningrad (St. Petersburg) geboren, Schriftsteller, lebt in Salzburg und Wien. Zahlreiche Romane, Erzählungen und Essays. Erhielt 2001 den Anton-Wildgans- und den Adalbert von Chamisso-Förderpreis.
Sama Maani, geboren in Graz. Studium der Medizin in Wien und der Philosophie in Zürich, Lebt als Autor, Psychoanalytiker und Psychiater in Wien.
Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften (u.a. kolik und wespennest) und Anthologien. 2004 Preis des Literaturwettbewerbs schreiben zwischen den kulturen. 2007 österreichisches Staatsstipendium für das Romanprojekt Ungläubig.
Fr., 23. März 2012 │19:00 Uhr
Hauptbücherei am Gürtel
Warum wir über den Islam nicht reden können
Wie kommt es, daß wir die Ablehnung des Islams als „rassistisch“ wahrnehmen – nicht jedoch die Ablehnung des Christentums?
Warum sind die Demonstranten des arabischen Frühlings für uns in erster Linie Moslems – die Demonstranten der Occupy-Bewegung in New York aber nicht christlich? Warum reden wir, wenn wir vorgeben über den Islam zu reden, über alles mögliche andere (Terrorismus, Migration, „Integration“) – nur nicht über den Islam? Und: Was hat unser (Nicht-)Reden über den Islam mit unserer eigenen Beziehung zur Religion zu tun?
Drei Vorträge mit anschließender Publikumsdiskussion.
Helmut Dahmer studierte Soziologie und Philosophie bei Helmuth Plessner, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas. In den Jahren 1968-1992 redigierte er die psychoanalytische Monatszeitschrift Psyche. 1984 gehörte er zum Gründungsbeirat des Hamburger Instituts für Sozialforschung. 1974-2002 lehrte er Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Seit 2002 lebt er als freier Publizist in Wien.
Publikationen: Libido und Gesellschaft (1973, 1982); Pseudonatur und Kritik (1994); Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert (2001); Divergenzen (2009); Die unnatürliche Wissenschaft (2012); Interventionen (2012).
Vladimir Vertlib, in Leningrad (St. Petersburg) geboren, Schriftsteller, lebt in Salzburg und Wien. Zahlreiche Romane, Erzählungen und Essays. Erhielt 2001 den Anton-Wildgans- und den Adalbert von Chamisso-Förderpreis.
Sama Maani, geboren in Graz. Studium der Medizin in Wien und der Philosophie in Zürich, Lebt als Autor, Psychoanalytiker und Psychiater in Wien.
Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften (u.a. kolik und wespennest) und Anthologien. 2004 Preis des Literaturwettbewerbs schreiben zwischen den kulturen. 2007 österreichisches Staatsstipendium für das Romanprojekt Ungläubig.
Fr., 23. März 2012 │19:00 Uhr
Hauptbücherei am Gürtel
Urban-Loritz-Platz 2a, 1070 Wien
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