Samstag, 4. Juli 2015

Tolerieren, Respektieren, Glauben. Warum wir glauben - und es nicht wissen (12)



Tatsächlichen oder vermeintlichen Moslems, die an „ihrer“ Kultur, resp. „ihrer“ Religion - zumal öffentlich - so etwas wie Unbehagen artikulieren, begegnet der weltoffene, den Islam respektierende Zeitgenosse seinerseits mit Unbehagen – und Intoleranz. Denn Respekt läßt für religiöse Toleranz allein deshalb keinen Patz, weil er dieser Toleranz schlicht das Objekt entzieht: geht es ihm doch einzig um die imaginäre Kategorie „Islam“, nicht um real existierende Angehörige von Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehrheit.

„Niemand soll wegen seinen Anschauungen, selbst religiöser Art, belangt werden, solange deren Äußerung nicht die […] öffentliche Ordnung stört.“

Der religiöse Toleranzgedanke, der hier, im Artikel X der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung von 1789, als Recht auf Religionsfreiheit zum Ausdruck kommt, gründet auf der Freiheit des Einzelnen der Religion gegenüber – jener Voraussetzung aller Aufklärung.

Daß der religiöse Toleranzgedanke ihren angemessensten Ausdruck hier in der Sphäre des Rechts findet, ist im Hinblick auf die psychoanalytische Unterscheidung zwischen Gesetz und Über-Ich kein Zufall: Während das Gesetz, das unsere Handlungen zu steuern versucht, unserer inneren Einstellung gegenüber gleichgültig bleibt (so daß ich das Gesetz befolgen kann ohne mit ihm identifiziert zu sein), zielt das Über-Ich auf unser Innerstes. Es genügt ihm nicht, daß wir seine Gebote bloß befolgen – es will, daß wir uns mit ihnen identifizieren. Das Über-Ich sagt uns also nicht (nur), was wir tun sollen - sondern was wir wollen sollen. So daß uns nicht der geringste innere Spielraum bleibt. Während es also relativ leicht fällt, gegen das Gesetz aufzubegehren, ist das Rebellieren gegen das Über-Ich unendlich schwieriger, zwingt es uns doch, uns selbst zu unterwerfen – und diese unsere Unterwerfung insgeheim auch noch zu genießen.

Während wir der religiösen Toleranz also in der Sphäre des Gesetzes begegnen, dem der Inhalt des Glaubens der Rechtssubjekte gleichgültig ist (solange jener Glaube „nicht die öffentliche Ordnung stört“), ist die Domäne des Respekts das des Über-Ichs. Jenes kleinen Gottes des Identifizierungsglaubens, der unserem weltoffenen Zeitgenossen gebietet, „den Islam“ zu respektieren, also einen spezifischen Glauben mit spezifischen Inhalten, all jene - vermeintliche oder tatsächliche - Moslems, die sich der Ideologie der vollen Identität mit „ihrem Islam“ nicht fügen, aber nicht toleriert.

Das – mehr und mehr um sich greifende - Respekt-Gebot des Über-Ichs läßt uns weit hinter dem religiösen Toleranzgedanken der Aufklärung zurückfallen. Religionsfreiheit, die einmal die Freiheit des Einzelnen der Religion gegenüber meinte (und die Freiheit von Religion selbstverständlich miteinschloß) bedeutet im Respekt-Diskurs des Über-Ichs nunmehr die Freiheit der Religion gegenüber dem Einzelnen. Das Anrecht religiöser Überzeugungen aller Art nicht bloß auf Toleranz, sondern auf Respekt – auf jene glaubensartige Verehrung also im erwähnten „monolatrischen“ Sinn.

Der einzelne – vermeintliche oder tatsächliche - Moslem verliert im Respekt-Diskurs nicht bloß seine Freiheit der Religion gegenüber, sondern seine Eigenständigkeit. Wird er doch in fixer, unauflöslicher Verbindung mit „dem Islam“ wahrgenommen, in dem er aufgehen und sich auflösen soll.

Die Auflösung dieser Auflösung ist die Bedingung der Möglichkeit der – wieder zu gewinnenden – Toleranz. Die Auflösung jener falschen Verknüpfung zwischen der Herkunft - vermeintlicher oder tatsächlicher - Moslems und „dem Islam“. Einer Verknüpfung, die Rassisten von FPÖ, Pegida und Co., aber auch jene weltoffene, „den Islam“ respektierende Zeitgenossen stets aufs neue reproduzieren.

Ende

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