Aber: Gibt es zwischen Bekenntnisglauben und Fanatismus keinen Unterschied? Sind Bekenntnisgläubige immer auch fanatisch?
In einem nach den Morden an den Redakteuren des Satiremagazins Charlie Hebdo verfassten Kommentar verneint Slavoj Zizek diese Frage - indem er zwischen „wahren Gläubigen“, die er im folgenden (etwas unglücklich) „authentische Fundamentalisten“ nennt, und fanatischen islamischen Fundamentalisten unterscheidet.
„Offensichtlich fehlt [den islamischen Fundamentalisten] doch etwas, das sich an allen authentischen Fundamentalisten mühelos beobachten läßt, ob an tibetischen Buddhisten oder den Amsih in den Vereinigten Staaten: die Abwesenheit von Ressentiment und Neid, die tiefe Gleichgültigkeit gegenüber der Lebensart der Ungläubigen. Wenn die [...] [islamischen Fundamentalisten] wirklich glauben, ihren Weg zur Wahrheit gefunden zu haben, warum sollten sie sich dann durch Nichtgläubige bedroht fühlen, warum sollten sie sie beneiden? Wenn ein Buddhist auf einen westlichen Hedonisten trifft, verurteilt er ihn kaum, sondern stellt vielmehr wohlwollend fest, dass die Glückssuche des Hedonisten zum Scheitern verurteilt ist. Im Unterschied zum wahren Fundamentalisten sind die terroristischen Pseudofundamentalisten vom sündigen Leben der Ungläubig zutiefst umgetrieben, fasziniert, bezaubert. Man spürt wie sie ihre eigene Versuchung bekämpfen, wenn sie den sündigen anderen bekämpfen [Hervorhebungen von mir].“1
So sehr wir Zizeks Beschreibung der Psychologie islamischer Fundamentalisten als neidische, ressentimentgeladene, vom Leben der Ungläubigen zutiefst faszinierte Subjekte zustimmen müssen, so sehr sollten wir die damit einhergehende Idealisierung des „wahren Glaubens“ zurückweisen. Einer ähnlichen Unterscheidung begegnen wir ja auch bei der – nach jedem Terroranschlag durch islamische Terroristen aufs Neue reproduzierten - Rede vom angeblich fundamentalen Unterschied zwischen dem „(wahren) Islam“ und dem Islamismus. Die komplexe Beziehung zwischen dem politischen und dem traditionellen Islam wird so auf die bequeme und plumpe Formel:
„Islam = (im Kern) gut“ versus „Islamismus = böse“
zu reduzieren versucht.2
Zizek hat zwar recht, zwischen den Haltungen und dem Verhalten von Islamisten einerseits, Amishen oder tibetischen Buddhisten andererseits, signifikante Unterschiede zu konstatieren. Diese Unterschiede betreffen jedoch bloß die Ebene des Bewußtseins und bewußter Handlungen. In klinischen Termini: nicht die psychodynamische sondern die symptomatische Ebene. Die von Zizek beschriebene Gelassenheit, Gelichgültigkeit und Abwesenheit von Ressentiment und Neid finden wir bei jenen nicht fanatischen – oder nicht manifest fanatischen – „authentischen“ Gläubigen nicht wegen – sondern trotz ihres (Bekenntnis)glaubens.
Sofern ihnen das radikale Desinteresse an den Objekten der Außenwelt, und die Unterwerfung unter das Über-Ich gemeinsam ist, gleichen Amishe, tibetische Buddhisten und andere Bekenntnisgläubige – und das schließt natürlich bekennende nicht-fundamentalistische Moslems ein – in ihrer Struktur fanatischen Fundamentalisten. Auch wenn der Fanatismus von „gewöhnlichen“ Bekenntnisgläubigen kein manifester sondern ein „stiller“ sein mag.
Sein stiller Fanatismus disponiert den „authentischen“ Bekenntnisgläubigen vom Typus „tibetischer Buddhist“ genauso wenig zum Glück wie es beim offensichtlich fanatischen Fundamentalisten der Fall ist.
Beider Unglück speist sich aus den selben zwei Quellen: das Paradox des Über-Ich, das umso strenger und quälender wird, je mehr sich das Ich unterwirft. Und: das Paradox der narzißtischen Libido, von der sie zugleich zu wenig und zu viel haben. Zuwenig, weil die narzißtische Liebesaffäre des Subjekts mit sich selbst einen ungenügenden Ersatz für die Beziehung zum real existierenden Objekt darstellt. Zuviel, weil - in der Sprache der Triebökonomie - das Übermaß an narzißtischer Ichlibido zu einem „Stau“ im Ich führt, die massive Unlust erzeugt – und krank macht.
„Ein starker Egoismus“, schreibt Freud, „schützt vor Erkrankung, aber endlich muß man beginnen zu lieben, um nicht krank zu werden, und muß erkranken, wenn man infolge von Versagung nicht lieben kann“.3
Ende
1) DIE ZEIT, 15. Januar 2015
2) Um jenem Respektgebot des Über-Ich zu genügen, der das Toleranzgebot des Gesetzes längst verdrängt zu haben scheint. War mit Toleranz einmal die Freiheit des Subjekts gemeint, zu glauben, was immer es wolle, ungeachtet des Inhalts seines Glaubens oder Nicht-Glaubens, gebietet das aktuell dominierende Respektgebot des Über-Ichs, die Inhalte aller möglichen religiösen Überzeugungen zu respektieren, sprich: „gut zu finden“.
Vgl. auch: Tolerieren, Respektieren, Glauben. Warum wir glauben - und es nicht wissen in diesem blog.
3) Sigmund Freud, Zur Einführung des Narzißmus. In ders., Gesammelte Werke, Bd X, Frankfurt am Main 1999, S. 151 f.
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