Jean Améry |
Der
Schriftsteller und Widerstandskämpfer Jean Améry war ein Kleinkind als sein
jüdischer Vater als Tiroler Kaiserjäger im Ersten Weltkrieg fiel. Er wurde dann
von seiner katholischen Mutter erzogen. 1938, nach dem Anschluß Österreichs an
das nationalsozialistische Deutschland, floh er mit seiner jüdischen Frau aus
Wien nach Belgien, wo er 1940 von den Nazis festgenommen und in einem
südfranzösischen Lager interniert wurde. 1941 gelang ihm die Flucht. Zurück in
Belgien schloß er sich einer Widerstandsgruppe an. 1943 wurde er erneut
verhaftet und im Lager Breendonk schwer gefoltert. 1944 wurde er nach
Ausschwitz und in weiterer Folge nach Buchenwald und Bergen-Belsen deportiert.
Als er schließlich befreit wurde, war seine Frau, um derentwillen er in jenen
Konzentartionslagern „zwei Jahre lang die Lebenskräfte wach gehalten hatte“,
nicht mehr am Leben.
Zwanzig Jahre
später begann Améry das Unbewältigbare jener Erlebnisse im Essayband Jenseits von Schuld und Sühne schreibend zu bewältigen:
„ ... als ich
1935 in einem Wiener Café über eine Zeitung saß und die eben drüben in
Deutschland erlassenen Nürnberger Gesetze studierte [...] brauchte [ich] sie
nur zu überfliegen und konnte schon gewahr werden, daß sie auf mich zutrafen.
Die Gesellschaft, sinnfällig im nationalsozialistischen deutschen Staat, den
[...] die Welt als legitimen Vertreter des deutschen Volkes anerkannte, hatte
mich soeben in aller Form [...] zum Juden gemacht [...] Ich war, als ich die
Nürnberger Gesetze gelesen hatte, nicht jüdischer als eine halbe Stunde zuvor.
Meine Gesichtszüge waren nicht mediterran-semitischer geworden [...] der
Weihnachtsbaum hatte sich nicht magisch verwandelt in den siebenarmigen
Leuchter. Wenn das von der Gesellschaft über mich verhängte Urteil einen
greifbaren Sinn hatte, konnte es nur bedeuten, ich sei fürderhin dem Tode
ausgesetzt. Dem Tode. Nun, dem gehören wir allen an, über kurz oder lang. Aber
der Jude, als der ich durch Gesetzes- und Gesellschaftsbeschluß jetzt dastand [...],
dessen Tage waren eine zu jeder Sekunde widerrufbare Ungnadenfrist [...] ich
[bin] gewiß, daß ich in [...] diesem Augenblick der Gesetzeslektüre [...] das
Todesurteil schon vernahm, und dazu gehörte [ja] auch keine besondere
Geschichtsempfindlichkeit [...] Ich hatte [...] in diesen Tagen [einmal] in
einer illustrierten Zeitung das Photo einer Winterhilfsveranstaltung in einer
rheinischen Stadt gesehen, und da prangte im Vordergrund, vor dem elektrisch
strahlenden Lichterbaum ein Spruchband [...] ‚Keiner soll hungern, keiner soll
frieren, aber die Juden sollen krepieren...’“
Die – von den
Nationalsozialisten beherrschte - Gesellschaft hatte also Améry in diesem
Augenblick „zum Juden gemacht“. Die Nürnberger Rassengesetze definierten ja akribisch,
anhand der Kriterien Abstammung, konfessionelle Zugehörigkeit und Ehe, ob
jemand als Jude galt, als jüdischer Mischling ersten oder zweiten Grades, oder
als „deutschblütig“. Améry galt, weil er zwei jüdische Großeltern besaß und mit einer Jüdin verheiratet war, als
„Volljude“ - die jüdische Identität wurde hier also gesetzlich konstruiert.
Aber: „Wenn
Jude sein heißt“, schreibt Améry an einer anderen Stelle, „mit anderen Juden
das religiöse Bekenntnis zu teilen, zu partizipieren an jüdischer Kultur und
Familientradition, ein jüdisches Nationalideal zu pflegen, dann befinde ich
mich in aussichtsloser Lage. Ich glaube nicht an den Gott Israels. Ich weiß
sehr wenig von jüdischer Kultur. Ich sehe mich, einen Knaben, Weihnachten zur
Mitternachtsmette durch ein verschneites Dorf stapfen, ich sehe mich in keiner
Synagoge. Das Bild des Vaters – den ich kaum gekannt habe [...] – zeigt mir
keinen bärtigen jüdischen Weisen, sondern einen Tiroler Kaiserjäger in der
Uniform des Ersten Weltkriegs.“
Identität
denken wir gewöhnlich als etwas eigenes, uns zugehöriges, vertrautes – und
bedeutsames. Glauben wir diese unsere Identität sei „verschüttet“ oder gar
„verloren“, fühlen wir uns aufgerufen, dieses Verschüttete oder Verlorene zu
suchen: in den Tiefen unseres Selbst, in Erinnerungen oder in den Traditionen
der Vorfahren.
Von all dem
finden wir in Amérys Verhältnis zu „seinem“ Jüdisch-sein nicht die geringste
Spur.
wird fortgesetzt
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