Identität
denken wir gewöhnlich als etwas eigenes, uns zugehöriges, vertrautes – und
bedeutsames. Glauben wir diese unsere Identität sei „verschüttet“ oder gar
„verloren“, fühlen wir uns aufgerufen, dieses Verschüttete oder Verlorene zu
suchen: in den Tiefen unseres Selbst, in Erinnerungen oder in den Traditionen
der Vorfahren.
Von all dem finden wir in Amérys Verhältnis zu „seinem“ Jüdisch-sein nicht die geringste Spur.
Von all dem finden wir in Amérys Verhältnis zu „seinem“ Jüdisch-sein nicht die geringste Spur.
„Ich war neunzehn Jahre alt, als ich von der Existenz einer jiddischen Sprache vernahm, wiewohl ich [...] genau wußte, daß meine religiös und ethnisch vielfach gemischte Familie den Nachbarn als eine jüdische galt [...]. Ich war Jude so wie einer meiner Mitschüler Sohn eines bankrotten Wirtes war: wenn der Knabe mit sich allein war, mochte der geschäftliche Niedergang der Seinen so gut wie nichts für ihn bedeutet haben [...] Meint also Jude sein einen kulturellen Besitz, eine religiöse Verbundenheit, dann war ich keiner und kann niemals einer werden.“
Eine wie auch immer geartete positive Identität als Jude hatte Améry also nicht - was aber nicht heißt, daß er glaubte, jenen brutalen negativen Akt der Identifizierung als Jude per Rassengesetz einfach zurückweisen zu können.
„Als ich 1935 die Nürnberger Gesetze las und mir bewußt wurde, nicht nur, daß sie auf mich zutrafen, sondern daß sie der juridisch [...] zusammengefaßte Ausdruck des schon vorher von der deutschen Gesellschaft durch ihr ‚Verrecke!’ gefällten Urteilsspruches waren, hätte ich geistig die Flucht ergreifen [...] können. Dann hätte ich mir gesagt: So, so, dies ist also der Wille des nationalsozialistischen Staates [...] er hat aber nichts zu schaffen mit dem wirklichen Deutschland. Oder ich hätte argumentieren können, daß es eben nur Deutschland sei, ein leider in einem blutigen Wahn versinkendes Land, das mich da absurderweise zum Untermenschen [...] stempelte, während zu meinem Heil die große und weite Welt draußen, in der es Engländer, Franzosen, Amerikaner, Russen gibt, gefeit ist gegen die Deutschland geißelnde Paranoia. Oder ich hätte [mir] schließlich [...] zusprechen können: Was immer man von mir auch sage: es ist nicht wahr. Wahr bin ich nur, als der ich mich selber im Innenraum sehe [...]; ich bin, der ich für mich und in mir bin, nichts anderes. Ich will nicht sagen, daß ich nicht bisweilen solcher Versuchung unterlag.“
Bisweilen – aber nicht dauerhaft. Denn:
„Ich verstand, wenn auch [zunächst] undeutlich, daß ich [...] den Urteilsspruch [der Nürnberger Gesetze] als einen solchen akzeptieren müsse [...] Ich nahm das Welturteil an [...]“
Und weiter: „Ich kann in meinen Erwägungen den Juden, die Jude sind, weil eine Tradition sie birgt, keinen Raum lassen. Nur für mich selber darf ich sprechen – und [...] für die wohl nach Millionen zählenden Zeitgenossen, auf die ihr Judesein hereinbrach, ein Elementarereignis, und die es bestehen müssen ohne Gott, ohne Geschichte, ohne messianisch-nationale Erwartung. Für sie, für mich heißt Jude sein die Tragödie von gestern in sich lasten spüren. Ich trage auf meinem linken Arm die Auswschitz-Nummer; sie liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch [...] gründlicher Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel der jüdischen Existenz.“
Jener von Debra Dickersen repräsentierte Diskurs, der Obama das Schwarz-Sein abspricht, bringt gegen die negative rassistische Identifizierung aller Schwarzen als nigger eine positive Identität in Stellung: die Abstammumng „echter“ schwarzer US-Amerikaner von westafrikanischen Sklaven.
Anders Améry, der seine Identifizierung als Jude durch den nationalsozialistischen Todfeind als gesellschaftliches Urteil radikal auf sich nahm - und sich weigerte, vor der negativen Identität, die ihm als Ausschwitz-Nummer auf dem linken Unterarm eingeschrieben war, in eine positive Identität als - religiöser, nationaler, kultureller, traditioneller - Jude zu flüchten.
wird fortgesetzt
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