Karl Abraham |
„in seinen ersten Lebensjahren ein in jedem Sinne verwöhntes Kind
[war]. [Von der Brust] [...] entwöhnte ihn [die Mutter] erst mit drei Jahren.
Mit der Entwöhnung, die unter großen Schwierigkeiten erfolgte, traf nun
zeitlich eine Reihe von Ereignissen zusammen, die den [...] Knaben plötzlich
seines Paradieses beraubten. Er war bisher der Liebling der Eltern, der um drei
Jahre älteren Schwester und der Kinderfrau gewesen. Die Schwester starb, die
Mutter zog sich in eine [...] langdauernde Trauer zurück [...]. Die Kinderfrau
verließ die Familie. Die Eltern [...] aber ertrugen das Leben in dem bisherigen
Hause nicht, da sie sich beständig an das verstorbene ältere Kind erinnert
fühlten. Man zog in [...] ein neues Haus. Mein Patient hatte ... alles
verloren, was ihm bis dahin an Mütterlichkeit zuteil geworden war. Die Mutter
hatte ihm zuerst die Brust entzogen und sich dann in ihrer Trauer auch
psychisch gegen ihn abgesperrt. Schwester und Kinderfrau waren nicht mehr da,
und selbst das Haus — ein so wichtiges Symbol der Mutter - existierte nicht mehr.
[...] Im halberwachsenen Alter verlor der Patient seinen Vater [...]
und lebte nun mit der Mutter, der er jetzt [wieder] liebevoll zugetan war. Aber
nach kurzer Witwenschaft heiratete die Mutter und ging mit ihrem Mann für
längere Zeit auf Reisen. Sie stieß damit die Liebe des Sohnes aufs neue von
sich ab [...]
Nach einer Reihe von Jahren starb die Mutter des Patienten. Er weilte
während ihrer letzten Krankheit bei ihr und hielt die Sterbende in seinen
Armen. Die starke Nachwirkung dieses Erlebnisses erklärt sich [...] daraus, daß
es eine vollkommene Umkehrung der
unvergessenen Situation darstellte, in welcher der Patient als kleines Kind in
den Armen und an der Brust der Mutter gelegen hatte.
Kaum war
die Mutter gestorben, so eilte der Sohn in die [...] Stadt, in welcher er sonst
lebte, zurück. Seine Affektlage aber war keineswegs die eines Trauernden,
sondern gehoben, glückselig. Er schildert, wie er von dem Gefühl beherrscht
war, die Mutter nun für immer und
unverlierbar in sich zu tragen. Eine innere Unruhe bezog sich nur auf die Beerdigung
der Mutter. Es war, als störte ihn die Tatsache, daß der Körper der Mutter noch
sichtbar im Sterbehause lag. Erst nach der Beerdigung konnte er sich dem ...
Gefühl des unverlierbaren Besitzes der Mutter hingeben.“
Karl Abraham entwickelt hier – in einer geradezu poetischen Sprache –
die psychoanalytische Theorie der Identifizierung - als Mechanismus der
Verlustverarbeitung. Abrahams Patient reagiert auf den Verlust des mütterlichen
Objekts indem er sich mit der Mutter identifiziert - sich die Mutter
buchstäblich einverleibt: er trägt „die Mutter nun für immer und unverlierbar
in sich“. Identifizierung bedeutet hier zugleich Rückzug ins Innere: das Subjekt zieht sich, in Reaktion auf den
Verlust des geliebten Objekts, auf die Bühne seines Inneren zurück – und
wechselt dabei die Rolle. Es ist nun nicht mehr der Patient, der die Mutter
liebt. Da er sich die Mutter „einverleibt“ hat, ist er selbst zur Mutter geworden - ist nun also selbst das geliebte Objekt. Er liebt nicht mehr,
sondern wird geliebt. Und zwar von sich selbst.
Identifizierungen gehen daher – mit Freud zu sprechen – stets mit
einer Zunahme an narzißtischer Libido auf Kosten von Objektlibido einher. Es
kommt also – in unsere Alltagssprache übersetzt – zu einer Zunahme an
Selbstachtung und Selbstwertgefühl auf Kosten des Interesses an der real
existierenden Außenwelt. Nach dem Motto: „Ich habe nun das Objekt meiner Liebe unverlierbar in mir – das macht mich
stark, weil unabhängig von der Welt da draußen“.
Lesen wir nun Debra Dickersens Satz („Schwarz heißt,
daß jemand von westafrikanischen Sklaven abstammt“) vor
diesem Hintergrund, läßt sich jene
Würde, die den Schwarzen unter Todesdrohung entzogen wurde, als (immer schon)
verlorenes „äußeres Objekt“ auffassen, das hier zu einem inneren Objekt wird, mit dem sich Dickersen und andere „echte“
schwarze US-Amerikaner identifizieren - und
das den Namen „Abstammung von westafrikanischen Sklaven“ trägt.
Wie jede Identität verlagert auch die Identität, die auf der
Identifizierung mit der „Abstammung von westafrikanischen Sklaven“ gründet, das
Interesse der Subjekte von der realen Außenwelt auf das imaginäre Innere. Dort
bietet sie dem Subjekt - als Ersatz für das draußen, in der gesellschaftlichen
Realität, fehlende Objekt „Würde“ - ein imaginäres inneres Objekt an, mit dem es
sich identifizieren kann. Das Subjekt selbst wird also, anders gesagt, zu
jener Würde, die es - in den
Augen der rassistischen Gesellschaft – nicht
hat.
wird fortgesetzt
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