Jene mit den Regeln der Austeritätspolitik
identifizierten Politiker glauben also an
eine andere Realität als die von ihrer Politik betroffenen Menschen, und es
ist offensichtlich dieser – blinde – Glaube, der uns veranlaßt, und berechtigt, ihre
Haltung als fanatisch zu bezeichnen.
Demnach wäre ein (Bekenntnis)glaube, der die Sicht seiner Träger auf die Realität verstellt, fanatisch zu nennen. Und wir hätten nun also ein Kriterium, das vom Bekenntnisglauben der Austeritätspolitiker an die Regeln der Austerität erfüllt wird - von jenen asketischen Haltungen der Arbeit, der Sexualität oder der Politik gegenüber aber nicht.
An dieser Stelle sehen wir uns nun auf einmal veranlaßt, unsere gerade aufgestellte These von der Glaubensförmigkeit der drei zuletzt genannten Haltungen in Zweifel zu ziehen, scheint es sich doch bei diesen Haltungen - im Unterschied zum Glauben jener Politiker an die Regeln der Austerität - jetzt überhaupt nicht mehr um so etwas wie einen Glauben zu handeln.
Dies würde allerdings nur dann zutreffen, wenn wir „Glauben“
einseitig als Glauben an die Existenz (oder Nicht-Existenz) eines Objekts auffassen,
und vergessen, daß unsere Sprache noch ein andere, nicht minder wichtige
Verwendung dieses Begriffs kennt.
Ein Mann, der zu seiner Frau, die vor einer
beruflichen Herausforderung steht, sagt: „Schatz, ich glaube an Dich!“, will ihr damit
nicht sagen, daß er an ihre Existenz glaubt, sondern, daß er sie für „gut“ hält, ihre
beruflichen Fähigkeiten hoch einschätzt u.ä.m. Dem Glauben in diesem zweiteren
Sinn des „Für-gut-haltens“, Wertschätzens oder Verehrens, begegnen wir etwa auch
in der sogenannten monolatrischen Phase des Judentums. Ein „monolatrischer Jude“
glaubte (im ersteren Sinn des Wortes Glauben) an die Existenz verschiedenster
Götter. Im zweiteren Sinn glaubte er aber ausschließlich an Jahwe – nur ihn
hielt er, im Unterschied zu den anderen Göttern, für verehrungswürdig, gut und
stark.1
Fassen wir nun „Glauben“ im zweiteren Sinn des „Für-gut-haltens“, Wertschätzens oder Verehrens auf, erweisen sich die skizzierten Haltungen der Sexualität, der Arbeit und der Politik gegenüber auch auch auf den zweiten Blick als glaubensförmig.
Die Haltung eines Mannes, der sein sexuelles Begehren verloren hat, weil er sich „voll mit seiner Arbeit identifiziert“, ist glaubensförmig, weil seine Wertschätzung, sein Interesse, seine Leidenschaft dem Job gilt. Weil er, mit anderen Worten, an seinen Job glaubt - und nicht mehr an die Liebe.
Auch der typische innere Monolog des politisch oder
ökologisch korrekten Zeitgenossen, den Slavoj Zizek im
folgenden paraphrasiert, verweist auf einen (Bekenntnis)glauben:
"Was hast du heute getan, um deine Schulden an die Natur zurückzuzahlen. Hast du alle [...] Zeitungen in den richtigen Mülleimer geworfen? Und alle Bierflaschen und Coladosen? Hast du das Auto genommen, wo du das Fahrrad oder den Nahverkehr hättest benutzen können? Hast du die Klimaanlage eingeschaltet, anstatt einfach das Fenster zu öffnen?"2)
Glaubensförmig ist solch narzißtische Selbstbespiegelung, weil die moralischen Ideale, die hier zur Sprache kommen, wie Glaubensgebote wirken, die das Subjekt zu befolgen versucht, um mehr und mehr seinem Ich-Ideal zu gleichen - und seinem Über-Ich zu gefallen. Objektive gesellschaftliche Zusammenhänge und Strukturen geraten dann häufig - vor lauter Selbstbespiegelung – aus dem Blick.
wird fortgesetzt
1) Diese zwei Modi des Glaubens entsprechen übrigens den zwei Entscheidungen, die Freud in seinem metapsycholgischem Text Die Verneinung der „Urteilsfunktion“ zuschreibt: „Sie soll einem Ding eine Eigenschaft zu- oder absprechen, und sie soll einer Vorstellung die Existenz in der Realität zugestehen oder bestreiten“. (Sigmund Freud, Die Verneinung. In ders.: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt a.M. 1993, S. 322)
2) Slavoj Zizek, Ärger im Paradies. Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2015, S. 137
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